Mariä Opferung

 

21. November

 

Als die heilige Mutter Anna von einem Engel die Zusicherung erhielt, dass sie eine Tochter gebären werde, die gebenedeit sein sollte im Himmel und auf Erden bis in alle Ewigkeit, da versprach sie hochbeglückt in überreicher Freude:

 

„Wenn dem so ist, dann soll das Mädchen dem Herrn geweiht sein alle Tage seines Lebens.“

 

Das war ein heiliges Gelöbnis, und dass Sankt Anna das Gelübde gehalten hat, zeigt das heutige Fest Mariä Opferung.

 

Die ersten drei Lebensjahre blieb das Gnadenkind Maria in der Obhut der Eltern Joachim und Anna in Nazareth. Die Legende weiß zu berichten, dass die Kleine, als sie sechs Monate alt war, die ersten Schritte getan hat. Sieben Schritte sollen es gewesen sein, von der Hauswand bis in die Arme der Mutter Anna, die vor dem Kind auf dem Boden hockte und es zu sich lockte. Wenige Tage später, also bedeutend früher, als es sonst bei Kleinkindern der Fall ist, konnte Maria laufen.

 

Als sich des Kindes Geburtstag zum ersten Mal jährte, veranstalteten die glücklichen Eltern ein Fest und luden viele aus der Verwandtschaft und der Bekanntschaft dazu ein. Auch einige Priester waren zugegen, und die Priester segneten Maria, indem sie sprachen:

 

„Gott unserer Väter! Segne dieses Mädchen und gib ihm einen Namen, der ewig genannt sei von allen Geschlechtern!“

 

So beteten die Priester über Maria, und alle, die zugegen waren, sagten:

 

„Es geschehe, geschehe! Amen! Amen!“

 

Genau so ging es auch im folgenden Jahr zu, als Maria zweijährig wurde. Bei dieser Gelegenheit drängte Joachim bereits die Gattin und sagte zu ihr:

 

„Anna! Wir wollen das Kind in den Tempel bringen und das Gelübde erfüllen, das wir gelobt haben.“

 

So sprach Joachim zu Anna, doch Anna entgegnete ihm:

 

„Nein, Joachim, wir wollen noch das dritte Jahr abwarten, damit die Kleine in der Ferne nicht Heimweh bekommt nach Vater und Mutter.“

 

So meinte Anna, und so geschah es auch.

 

Als Maria drei Jahre alt wurde, brachten Joachim und Anna sie nach Jerusalem. Dort befand sich neben dem Tempel ein Haus, in dem junge Mädchen erzogen und unterrichtet wurden, die zugleich durch ihre Arbeit dem Tempel dienten und später nach Ablauf einer Reihe von Jahren wieder in ihre Familien zurückkehrten.

 

Dahin wurde Maria von den Eltern gebracht. Sie trug damals ein himmelblaues Gewand. Himmelblau ist die Mutter-Gottes-Farbe deswegen, weil sie uns in ihrem göttlichen Kind den Himmel gebracht hat. Weißgekleidete Mädchen mit brennenden Kerzen in den Händen führten Maria auf dem Weg zu ihrer Opferung rechts und links wie bei einer Prozession, und als sie sich so in der Begleitung der Eltern inmitten der Gespielinnen näherte, stand der Priester, der die Jungfrauenschule beim Tempel leitete, oben am Ende der Treppe im Portal des Hauses und empfing sie segnend und sprach in erleuchteter Weisheit die Worte:

 

„Groß gemacht hat Gott der Herr deinen Namen unter allen Geschlechtern der Erde, denn in dir wird offenbar werden die Erlösung der Kinder Israels.“

 

Auf diese Weise haben Joachim und Anna das Gelübde eingelöst, indem sie ihr Kind dem Herrn und seinem Dienst im Tempel weihten, und Maria hat ihrerseits Eltern und Heimat verlassen, um sich Gott zu schenken und ihm allein anzugehören. Wir wissen, dass aus dem Doppelopfer der Eltern und des Kindes ein unendlicher Segen für die ganze Welt geflossen ist.

 

Elf Jahre blieb Maria im Tempel. Dort lernte sie spinnen und nähen und mit Gold- und Silberfäden in Seide sticken, so dass sie alle heiligen Gewänder, wie sie die Priester beim Gottesdienst damals trugen, kunstvoll anzufertigen verstand. Ebenso wurde sie im Lesen unterrichtet, damit sie die alten heiligen Lieder, die sie beim Gottesdienst mitsang, auch begriff. Voll Ehrfurcht war Maria stets gegen die Vorgesetzten und voll Liebe zu den Gespielinnen im Haus, gern half sie bei der Arbeit und war voll Sanftmut und Geduld. Von der Tempeljungfrau Maria sagt der heilige Kirchenlehrer Ambrosius, ihr Leben sei so heilig gewesen, dass es allen Menschen und ganz besonders den Kindern zum Vorbild gereicht.

 

Als die Schuljahre in Jerusalem vorüber waren, kehrte Maria nach Nazareth zurück. Dort wurde sie später, wie wir aus der biblischen Geschichte wissen, mit einem Mann aus Davids Haus verlobt, der Josef hieß, und wieder einige Zeit später wurde zu ihr der Engel Gabriel gesandt, der ihr die gnadenvolle Botschaft brachte, dass sie die Mutter des Sohnes Gottes werden sollte, dem sie dann in der Heiligen Nacht, allen Menschen zur immerwährenden Freude, zu Bethlehem im Stall das Leben schenkte.

 

Welch ein reicher Gottessegen liegt doch auf dem Leben der allerseligsten Jungfrau, und wie lieb muss sie uns deswegen sein!

 

Von der heiligen Anna

 

Die heilige Anna ist eine von den Müttern gewesen, welche erst in ihren späten Jahren und gleichsam am Rand des Lebens empfangen haben. Und bei diesen Müttern ist die so späte und wunderbare Fruchtbarkeit als eine besondere Belohnung zu betrachten. Sie sind durch eine außerordentliche Gnade und durch ein himmlisches Wunder zu Müttern geworden, und zwar dann, als sie selbst angefangen hatten die Hoffnung auf ein Kind aufzugeben. Die alte Sarah empfing noch ihren Isaak und Elisabeth, die die Unfruchtbare genannt wurde, wurde erst nach vielen Jahren mit Johannes gesegnet. Der heiligen Anna aber hat Gott eine noch viel größere Gnade zukommen lassen als den anderen berühmten Frauen. Sie durfte vor ihrem Ende noch die Mutter derjenigen werden, die das Heil aller Völker gebären wird. Anna, die Mutter Mariens und die Großmutter des Weltheilands!

 

Die heilige Anna ist als Ehefrau und Mutter die Glücklichste gewesen: sie hatte einen heiligen Ehemann und eine heilige Tochter, zwei Vorzüge, die ihre Ehe zu einem Paradies auf Erden machen musste. Im Himmel aber wird die heilige Anna in Anbetracht der Erhöhung ihrer Tochter vollends glücklich und selig gewesen sein. Welch eine Freude war es für sie, von himmlischer Höhe herabzusehen, wie die Chöre der Engel ihre Tochter mit Leib und Seele in den Himmel heraufholen, wie gleich das Heer der Blutzeugen sie als Königin der Märtyrer empfangen hat, zu sehen, wie sich die Erzväter und die Propheten vor ihr als ihrer Königin verneigten, zu sehen, wie die Engel, die Erzengel, die Cherubinen und Seraphinen, die Fürstentümer und Thronen und alle seligen Geister um den Thron Gottes herum erschauerten und Maria als ihre Königin verehrten. Welch eine wunderbare Freude war es für die heilige Anna, ihre Tochter so geehrt zu sehen und ihren Thron ganz in der Nähe des Thrones Gottes, und ihre Tochter schließlich nach Gott als die größte im Himmel und auf Erden zu sehen. Oder fällt nicht die Herrlichkeit der Tochter auf die Mutter zurück? Wird nicht die Mutter in der Tochter geehrt? Und ist nicht die Erhöhung der Tochter die Herrlichkeit der Mutter?

 

Ja, Anna ist voller Herrlichkeit und Freude und darum auch mächtig in der Fürbitte.

 

Matthias Hergert

 

*     *     *

 

Als der Erzengel Gabriel Maria die inhaltschwere Botschaft überbrachte, sie solle Mutter des Herrn werden, gab die seligste Jungfrau ihre Herzenseinstellung in den schlichten und doch tiefen Worten kund: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn! Mir geschehe nach deinem Wort!“ Maria hätte bei dieser dunklen Botschaft ein solches Wort nicht so schnell und so echt sprechen können, wenn sonst ihr Leben auf etwas anderes ausgerichtet gewesen wäre als darauf, den Willen Gottes zu erfüllen. Wir spüren förmlich bei dieser Szene, dass diese Antwort nur aus einer lebenslang geübten Einstellung auf den Willen des Herrn herausgeflossen ist.

 

Auf diesen Tatbestand möchte das Fest der Opferung Mariens aufmerksam machen. Es hat zwar zum geschichtlichen Ausgangspunkt die Auffassung, Maria sei als kleines Kind von ihren Eltern zum Tempel nach Jerusalem gebracht worden, um dort als gottgeweihte Tempeljungfrau dem Dienst des Allerhöchsten zu leben. Darum Mariä Opferung genannt. Da die Heilige Schrift uns nichts von dem berichtet, was im Leben der Auserwählten der Verkündigungsszene vorausgegangen ist, so schweigt sie auch über diese Auffassung. Leider wissen wir auch aus anderen Quellen nichts geschichtlich Sicheres, was diese fromme Legende stützen könnte.

 

Aber der innere Kern, der in dieser Auffassung ausgesprochen werden soll, ist sicherlich echt. Gott bereitet nämlich seine Werke in feinster Weise vor. Da er das Kind Maria von Nazareth nur als die vorausbestimmte Mutter seines Sohnes ins Dasein treten ließ, so hat er durch seine Gnaden in diesem Mädchenherzen darauf hingearbeitet, dass es in besonderer und in vollster Weise des Herrn sein wollte. Wollte er doch seine Menschwerdung nur verwirklichen mittels der freiwilligen Zustimmung Mariens. Darum wird er ihre gesamte Seelenerziehung darauf abgestellt haben, dass es ihr stets eine Lebensspeise war, dem Willen Gottes zu folgen. Maria ist darum nicht nur jenes Wesen, das der Allerhöchste ganz und gar für sich und seine Pläne mit Beschlag belegt hatte. Sie ist auch ihrerseits in freier sittlicher Entscheidung jenes Menschenkind, das sich ganz und voll dem Herrn hingibt.

 

Durch Gottes Einfluss lebte Maria als Mädchen in jener inneren Haltung, die später als das Ideal christlicher Jungfräulichkeit bezeichnet wurde. Von ihr sagt ja der heilige Paulus: „Die Jungfrau aber ist um die Sache des Herrn bedacht, sie will an Leib und Seele heilig sein.“ Mit Recht hat man seit unvordenklichen Zeiten diese Haltung aus dem Wort Mariens herausgelesen: „Wie soll mir das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“

 

In solcher Einstellung, die Maria ein ganzes langes Leben begleitet hat, steht Maria in der göttlichen Heilsgeschichte als die Jungfrau aller Jungfrauen da. Leuchtendes Vorbild christlicher Jungfräulichkeit. Kaum spricht man je den Namen „Maria“ aus, ohne hinzuzufügen: die „Jungfrau“. Keineswegs darf bei dieser Aussage Mariens wunderbare leibliche Unversehrtheit trotz echter Mutterschaft im Vordergrund stehen. Das Ausschlaggebende ist vielmehr ihre seelische Unverletztheit oder Sündenlosigkeit, ihre innere Totalhingabe an den Herrn. Ohne diese hätte Maria niemals jene Heilsaufgaben an der Seite ihres Sohnes Jesus erfüllen können, die die Liebe Gottes ihr zugedacht hatte.

 

Darum wird auch die Kirche als der fortlebende Christus der jungfräulichen Seelen nicht entraten können. Nie wird das Reich Gottes auf dieser Erde zur Blüte kommen, wenn es nicht Menschen gibt, die in jungfräulicher Ganzhingabe sich dem Reich Gottes zur Verfügung stellen, sei es für seine Ausbreitung unter allen Völkern der Erde, sei es zu seiner Vertiefung in den Seelen der Christen.

 

Kirchengebet

 

O Gott, Du wolltest, dass am heutigen Tag die heilige, allzeit reine Jungfrau Maria, die Wohnung des Heiligen Geistes, im Tempel Dir dargebracht werde. Daher bitten wir Dich: gib, dass wir auf ihre Fürsprache würdig seien, dereinst selber im Tempel Deiner Glorie vor dich gebracht zu werden. Amen.

 

Zur Geschichte des Festes: Die Feier des Festes „Mariä Opferung“ ist jedenfalls uralt. Im Morgenland ist sie schon im 8. Jahrhundert bekannt, und zwar unter dem Titel: „Einzug der Gottesmutter in den Tempel“. Durch einen Gesandten von Cypern am päpstlichen Hof zu Avignon (wo Gregor XI. damals residierte) veranlasst, wurde dieses Fest in der abendländischen Kirche 1372 zum ersten Mal feierlich begangen. Es wurde aber bereits im 11. Jahrhundert mancherorts gefeiert. Papst Sixtus IV. ordnete es im Jahr 1472 für die ganze Kirche an. Pius V. (1566-72) strich aber wieder diesen Festtag aus dem römischen Kalender. Sixtus V. führte ihn 1585 wieder ein. Klemens VIII. approbierte das Offizium in seiner heutigen Form. Dass gerade dieses Fest in Norddeutschland zu den volkstümlichen Marienfesten gehört, ist dem Umstand zuzuschreiben, dass die Bischöfe Preußens eine lange Zeit hindurch Mariä Opferung auf den staatlichen Buß- und Bettag verlegt hatten.

 

(Prof. Dr. Carl Feckes, So feiert dich die Kirche, Steyler Verlagsbuchhandlung, 1957)

 

Aus dem Marianischen Festkalender:

 

Im Alten Testament war das Opfern eine ganz gewöhnliche, teils von Gott gebotene, teils freiwillige Sache. Freiwillig war das Opfer, das Maria Gott brachte und an das die katholische Kirche uns heute erinnert. Sie opferte sich nämlich selber dem göttlichen Dienst beim Tempel. Von den Tagen des Mose an bestand nämlich an der Stiftshütte und später am salomonischen Tempel ein Kreis frommer Jungfrauen, die durch das Gelübde zeitweiliger nicht beständiger - Jungfräulichkeit verbunden, vor der Tür des Versammlungszeltes dem Herrn dienten. Sie standen unter Aufsicht des Hohenpriesters.

 

Die Legende erzählt, dass Maria während ihres Verweilens beim Tempel im Kreis der anderen Jungfrauen und Matronen oft von den Engeln besucht und durch sie gespeist wurde. Näheres berichten die Gesichte und Offenbarungen gottbegnadeter Seelen. So erzählt die gottselige Katharina Emmerich über die Begebenheit "dass Maria als Kind im Tempel geopfert wurde" Folgendes:

 

Joachim ging mit Zacharias und den anderen Männern heute schon früh zum Tempel. Dann wurde auch das Kind Maria von der Mutter Anna in einem festlichen Zug dahingeführt. Anna und deren älteste Tochter Maria Heli mit ihrem Töchterlein Maria Cleophä schritten voraus, dann folgte das heilige Kind Maria in seinem himmelblauen Kleid und Mantel mit Kränzen um die Arme und um den Hals geschmückt. Sie trug die mit Blumen umwundene Kerze oder Fackel in der Hand. Zu jeder Seite gingen ihr drei Mägdlein mit ähnlich geschmückten Fackeln, deren weiße Kleider mit Gold gestickt waren. Auch sie trugen lichtblaue Mäntelchen, waren ganz mit Blumenkränzen umwunden und hatten Kränzchen um Arme und Hals. Dann folgten die anderen Jungfrauen und Mägdlein, alle festlich doch verschieden gekleidet, alle trugen Mäntelchen. Den Zug beschlossen die anderen Frauen.

 

Sie konnten aus der Festherberge nicht gerade zum Tempel, sondern mussten auf einem Umweg durch mehrere Straßen ziehen. Alles freute sich an dem schönen Zug, dem an mehreren Häusern Ehre erwiesen wurde. Das Kind Maria hatte etwas unbeschreiblich Heiliges und Rührendes in seiner Erscheinung. 

 

Ich sah, da der Zug angekommen war, viele Tempeldiener beschäftigt, ein ungemein großes, schweres, wie Gold schimmerndes Tor, auf dem allerlei Köpfe, Weintrauben und Ährenbüsche abgebildet waren, mit großer Anstrengung aufzutun. Es war die goldene Pforte. Der Zug ging durch diese Pforte. Es waren fünfzehn Stufen bis zu ihr zu steigen, ich weiß nicht mehr, ob mit Unterbrechungen. Man wollte Maria an der Hand führen, aber sie nahm es nicht an. Sie eilte in freudiger Begeisterung, ohne zu straucheln, die Stufen hinauf. Alle waren gerührt darüber. Unter der Pforte empfingen sie Zacharias, Joachim und einige Priester, und führten sie rechts unter der Pforte, die ein langer Bogen war, in einige Hallen oder hohe Säle, in deren einem eine Mahlzeit zubereitet wurde. Der Zug sonderte sich hier ab. Mehrere der Frauen und Kinder gingen an den Betort der Frauen im Tempel, Joachim und Zacharias aber zum Opfer. Die Priester legten in einer der Hallen nochmals dem Kind Maria prüfende Fragen vor, und da sie erstaunt über die Weisheit des Kindes geschieden waren, bekleidete Anna das heilige Kind mit dem dritten feierlichsten violblauen Festkleid und dem dazu gehörigen Mantel, Schleier und Krönchen.

 

Unterdessen war Joachim mit den Priestern zum Opfer gegangen. Er empfing Feuer von einem bestimmten Ort und stand zwischen zwei Priestern in der Nähe des Altares.

 

Als das Opfer Joachims schon brannte, ging Anna mit dem geschmückten Kind Maria und seinen Begleiterinnen in den Frauenvorhof, wo der Standort der Frauen im Tempel ist. Dieser Ort war vom Hof des Opferaltars durch eine Mauer getrennt, die oben in einem Gitter endete. In der Mitte dieser Scheidewand war jedoch ein Tor. - Der Standort der Frauen steigt von der Scheidewand nach rückwärts schräg auf, so dass sie zwar nicht alle, aber doch die zurückstehenden zum Opferaltar einigermaßen hinsehen konnten. Wenn aber das Tor in der Scheidewand geöffnet war, dann konnte ein Teil der Frauen durch dieses zum Altar sehen. Maria und die anderen Mägdlein standen vor Anna und die anderen verwandten Frauen unfern des Tores. An einem abgesonderten Ort stand eine Schar weißgekleideter Tempelknaben, die auf Flöten und Harfen spielten.

 

Nach dem Opfer wurde unter diesem Tor, das aus dem Frauenhof in den Opferhof hinsah, ein tragbarer, bedeckter Altar oder Opfertisch aufgerichtet und zu ihm aufsteigend einige Stufen. - Zacharias und Joachim traten aus dem Opferhof mit einem Priester zu diesem Altar, vor dem ein Priester und zwei Leviten mit Rollen und Schreibgeräten standen, zu dem Anna das geschmückte Kind Maria führte. Etwas zurück standen die Mägdlein, die Maria begleitet hatten. - Maria kniete auf die Stufen. Joachim und Anna legten ihr die Hände auf den Kopf. Der Priester schnitt ihr einige Haare ab, die auf einem Feuerbecken verbrannt wurden. Die Eltern sprachen auch einige Worte, durch die sie ihr Kind opferten, und es wurde dies durch die beiden Leviten aufgeschrieben. Währenddessen sangen die Mägdlein den 44. (45.), und die Priester den 49. (50.) Psalm, wozu die Knaben musizierten.

 

Ich sah nun aber Maria von zwei Priestern an der Hand viele Stufen hinauf auf eine erhöhte Stelle der Scheidewand führen, die den Vorhof des Heiligen von dem anderen Raum trennte. In der Mitte dieser Scheidewand stellten sie das Kind in eine Art Nische, so dass sie in den Tempel hinab sah, in dem viele Männer geordnet standen, die mir auch zum Tempel verlobt schienen. Zwei Priester standen ihr zur Seite, und die Stufen herab noch mehrere, die beteten und laut aus Rollen lasen. - Jenseits der Scheidewand stand so hoch, dass man ihn halb sehen konnte, ein alter Hoherpriester bei einem Rauchopferaltar. Ich sah ihn ein Rauchopfer bringen und die Rauchwolke sich um das Kind Maria verbreiten.

 

Die Priester nahmen dem Kind nun die Kränzchen von den Armen und die Fackel aus der Hand und reichten sie ihren Begleiterinnen. Sie legten ihr eine braune Schleierkappe über das Haupt und führten sie die Stufen hinab durch eine Tür in eine andere Halle, wo ihr etwa sechs andere, jedoch erwachsenere Tempeljungfrauen, Blumen vor ihr streuend, entgegentraten. Hinter diesen standen ihre Lehrerinnen Noemi, die Schwester von Lazari Mutter und die Prophetin Hanna nebst einer dritten Frau. Diesen übergaben die Priester Maria und gingen zurück. Die Eltern und nahen Verwandten waren auch hinzugetreten, der Gesang war vollendet, und Maria nahm Abschied von den Ihrigen. - Joachim war besonders tief gerührt. Er hob Maria empor, drückte sie an sein Herz und sprach unter Tränen: "Gedenke meiner Seele vor Gott!" Worauf nun Maria mit den Lehrerinnen und mehreren Mägdlein in die Wohnung der Frauen an der Mitternachtsseite des eigentlichen Tempels ging. Sie hatten ihren Aufenthalt in Gemächern, die in den dicken Mauerwerken des Tempels angebracht waren. Sie konnten durch Gänge und Wendeltreppen hinauf in kleine Betzellen neben dem Heiligen und Allerheiligsten gelangen.

 

Die Eltern und Verwandten Mariens begaben sich in die Halle an der goldenen Pforte zurück, wo sie zuerst verweilt waren und nahmen dort mit den Priestern ein Mahl ein. Die Frauen aßen in einer Halle getrennt.

 

Die Eltern und übrigen Verwandten Mariens gingen noch heute bis gegen Bethoron zurück.

 

Als nun ins dritte Jahr

Das Kind gekommen war,

An ihr Gelübde dachten

Die Eltern, und sie Brachten

Zum Tempel hin die Gottesbraut

Mit Opfern und mit Psalmenlaut.

Da war`s ein Wunder, wie geschwind

Das unmündige Gotteskind

Die fünfzehn großen Stufen schnelle

Hinaufschritt zur geweihten Stelle,

Ganz ohne Hilfe. An dem Ort

Blieb sie mit anderen Jungfrauen dort,

Dem Dienste Gottes fromm geweiht,

Im Chore alle Zeit

Gottes Lob zu singen,

Jedoch vor allen Dingen

Alles heilige Gewand

Zu weben mit kunstreicher Hand.

So blieb sie Jahr für Jahr.

 

Der Engel hehre Schar

Umgab sie, und in ihrer Hut

Erwuchs die Maid heilig und gut.

In schöner Reih`

Kamen herbei

Die Himmelschöre, zu dienen

Gar unverzagt

Der reinen Magd,

Die prangend war erschienen.

Das Jungfräulein,

Wie zart und klein

Es war zum Herrn gekommen,

Als seine Braut

Gar lieb und traut

Ward es vom Geiste aufgenommen.

 

(Aus: "Goldene Legende der Heiligen"

von Joachim und Anna bis auf Constantin den Großen

neu erzählt, geordnet und gedichtet von

Richard von Kralik, 1902)

 

 

Marias Aufenthalt im Tempel zu Jerusalem

 

(Aus: Die heilige Elisabeth von Thüringen von Dr. Alban Stolz)

 

Es ist fast unmöglich, dass eine Christenseele von ganzem Herzen alle Tage mit dem Herrn Jesus Christus in richtiger Art umgeht und in ihrer Andacht niemals Diejenige sieht und ansieht, die nach Leib und Seele von allen erschaffenen Wesen Christus am nächsten steht, zu der selbst der Engel Gabriel gesprochen hat: "Der Herr ist mit dir!" und die jetzt mit dem Herrn vereinigt ist, wie nicht einmal die höchsten Engel. Je mehr demnach die Liebe zum göttlichen Heiland in Elisabeth zunahm, und je mehr Elisabeth von ihm geliebt wurde, desto weniger konnte die Mutter des Herrn von diesem Liebesverhältnis ausgeschlossen bleiben. Wir Christen bekennen ja alle eine "Gemeinschaft der Heiligen"; darum nimmt auch die gebenedeite heilige Jungfrau und Mutter Gottes Teil daran, wenn eine Seele recht innig den Herrn liebt und von ihm geliebt wird.

 

In den Jahrbüchern der Franziskaner wird erzählt, dass die heilige Elisabeth, Landgräfin von Thüringen, viele Erscheinungen (Visionen) und Mitteilungen von der Mutter Gottes bekommen habe. - In der Burgundischen Bibliothek zu Brüssel ist eine alte Handschrift aufbewahrt mit dem Titel: "Geschichte der heiligen Elisabeth". Daraus sei hier einiges ausgesucht.

 

1. In der Vigilie der Geburt des Herrn, als Elisabeth ihre Gedanken auf die Größe der heiligen Muttergottes gerichtet hatte, erschien ihr die allerseligste Jungfrau Maria und sagte: "Ich will dich alle Gebete lehren, die ich verrichtete, als ich mich im Tempel aufhielt."

 

"Als", sprach sie, "mein Vater und meine Mutter mich im Tempel zurückließen, beschloss ich in meinem Herzen, Gott zum Vater zu haben, und sann andächtig und oft darüber nach, was ich Gott Angenehmes tun könnte, damit er mich würdige, mir seine Gnade zu verleihen. Und ich ließ mich in dem Gesetz meines Gottes unterrichten, und von allen Geboten des göttlichen Gesetzes bewahrte ich vorzüglich drei in meinem Herzen, nämlich: Du sollst Gott deinen Herrn aus ganzem Herzen und von ganzer Seele und aus allen deinen Kräften lieben! - Desgleichen: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! - Desgleichen: Du sollst deinen Feind hassen! - Diese bewahrte ich in meiner Seele und begriff sogleich, wie alle Tugenden in denselben enthalten seien. Und dieses will ich dich lehren: dass die Seele keine Tugend haben kann, wenn sie nicht Gott von ganzem Herzen liebt, denn von dieser Liebe steigt jede Fülle der Gnade herab; ist sie aber herabgestiegen, so verweilt sie nicht in der Seele, sondern zerrinnt wie Wasser, wenn die Seele nicht ihre Feinde, das heißt - Laster und Sünde, hasst. Wer also Gottes Gnade erhalten und besitzen will, muss sein Herz zur Liebe und zum Hass bereiten. Darum will ich, dass du tust, wie ich selber getan. Ich stand nämlich immer um Mitternacht auf, ging vor den Altar des Tempels und bat mit aller Begierde, mit aller Sehnsucht, mit aller Liebe, deren ich fähig war, den allmächtigen Gott um die Gnade, jene drei Gebote und alle Teile des Gesetzes beobachten zu können. Und also vor dem Altar stehend, richtete ich sieben Bitten zum Herrn:

 

Erstens bat ich um die Gnade, das Gebot der Liebe Gottes erfüllen zu können. 

Zweitens bat ich um die Gnade, den Nächsten nach Gottes Willen und Wohlgefallen und überhaupt alles lieben zu können, was Gott selbst liebt und wert hält.

Drittens bat ich, er möchte mir verleihen, alles zu hassen, was er verabscheut.

Viertens bat ich um Demut, Geduld, Güte des Herzens und Sanftmut, und um alle Tugenden, die mich vor seinen Augen schmücken könnten.

Fünftens bat ich Gott, er möchte mich die Zeit erblicken lassen, in welcher die allerseligste Jungfrau zur Welt käme, die Gottes Sohn gebären würde; er möchte mir meine Augen bewahren, sie zu sehen, meine Ohren, sie zu hören, meine Hände, ihr aufzuwarten, meine Füße, in ihrem Dienst zu wandeln, meine Knie, Gottes Sohn auf ihrem Schoß anbeten zu können.

Sechstens bat ich um die Gnade, den Geboten und Verordnungen des obersten Priesters im Tempel zu gehorchen.

Siebentens bat ich Gott, er möchte den Tempel und sein ganzes Volk seinem Dienst erhalten!"

 

Als dies die Magd Christi gehört hatte, sagte sie: "O süßeste Gebieterin, waret Ihr nicht der Gnaden und Tugenden voll?"

 

Die Jungfrau antwortete: "Sei gewiss, dass ich mich für ebenso schuldig, verwerflich und der Gnade unwürdig hielt, als du; darum erbat ich mir von ihm Gnaden und Tugenden!"

 

Ebenso sagte eines Nachts die seligste Jungfrau zu ihr: "Mit mir tat der Herr, wie der Zitherspieler mit einer vielsaitigen Zither tut, wenn er die Saiten zu ergötzlichem, harmonischen Spiel stimmt und ordnet, und dann dazu singt. So hatte Gott mir Seele, Geist und Gemüt und alle Sinne meines Körpers nach seinem Wohlgefallen gestimmt. Als ich nun nach seiner Weisheit also geordnet war, wurde ich von den Engeln in den Schoß Gottes, des Vaters, getragen, und empfing dort so viel Trost und Freude, so viel Erquickung und Labsal, so viel Süßigkeit und Wonne, dass ich mich gar nicht mehr erinnerte, jemals auf dieser Welt gewesen zu sein und sie jemals gesehen zu haben. Ich war überdies in so großer Vertraulichkeit mit Gott und seinen Engeln, dass es mir schien, als habe ich immer in jener Herrlichkeit gewohnt. 

 

Hatte ich aber dort so lange geweilt, als es Gott dem Vater gefiel, so gab er mich den Engeln zurück, die mich wieder an die Stätte trugen, wo ich vorher gebetet hatte. 

 

Kam ich dann zu mir und sah mich wieder auf die Erde versetzt, und erinnerte mich, wo ich gewesen war, so entbrannte ich bei dieser Erinnerung von göttlicher Liebe, und umarmte Erde, Steine, Bäume und alle Geschöpfe, und küsste sie aus Liebe zu dem, der sie geschaffen hat.

 

Dann schien es mir, ich sei die Magd aller Frauen im Tempel; ich wünschte allen Kreaturen untertan zu werden, aus Liebe zum höchsten Vater, und solches geschah mir oft. - So solltest auch du es machen!"

 

2. "Einmal aber, da ich daran dachte, dass ich mich nie von Gott trennen wollte, stand ich auf und ging hin zu lesen, mit dem Wunsch, etwas zu finden, was meine Seele stärkte. Und als ich das Buch öffnete, stieß ich auf jene Stelle des Isaias: ""Siehe, die Jungfrau wird empfangen!" Als ich hieraus entnahm, der Sohn Gottes werde eine Jungfrau erwählen, seinen Ursprung aus ihr zu nehmen, beschloss ich sogleich in meinem Herzen, aus Ehrfurcht und Liebe zu dieser Jungfrau meine Jungfräulichkeit zu bewahren, mich ihr als Magd zu übergeben und niemals von ihr zu lassen, auch wenn ich durch die ganze Welt mit ihr als Fremde wandern müsste. - Eines Nachts aber, als ich andächtig im Gebet lag, bat ich inständigst den Herrn um die Gnade, mir so lange mein Leben zu fristen, bis ich eben diese Jungfrau mit meinen Augen sähe, ihr mit meinen Händen aufwartete, mein Haupt, sie zu verehren, beugte und mich gänzlich ihrem Dienst widmete. Und siehe, ein Glanz, heller als die Sonne, erstrahlte, und aus der Mitte des Glanzes hörte ich eine Stimme, die sagte zu mir: "Bereite dich, meinen Sohn zu gebären!" Und die Stimme fügte hinzu: "Wisse, jene Unterwürfigkeit, die du aus Liebe zu Mir anderen erzeigen willst, will ich, dass andere dir erzeigen; und ich will, dass du meines Sohnes Mutter, Herrin und Gebieterin seiest, damit du Ihn nicht allein besitzest, sondern Ihn auch allen, denen es dir gefällt, gewähren könnest. Weder Meine Gnade, noch Meine Liebe, noch Meines Sohnes Liebe soll demjenigen zuteilwerden, der dich nicht liebt; und wer dich nicht als Mutter Meines Sohnes bekennt, wird in Mein Reich nicht eingehen! - Du - sprach die Stimme zu mir - begehrtest von Mir, dich jener angenehm zu machen, die Meinen Sohn gebären würde, dass sie dir Vertrauen genug schenke, dir Meinen Sohn zu gewähren und Er deine Liebe gänzlich ausfülle; und ich sage dir: dass du Ihn selbst haben wirst und Er dir von Mir, und nicht von einem andern wird gegeben werden. Und wer nicht um deine Gnade bittet, wird an dem Sohn und durch den Sohn keinen Trost empfangen können!" 

 

Als ich dieses gehört hatte, fiel ich aus Furcht besinnungslos auf mein Angesicht und konnte mich nicht aufrecht halten. Da kamen aber Engel und hoben mich auf und stärkten mich. Und von da an gab ich mich gänzlich dem Lob Gottes hin, so dass ich ihn zu preisen und ihm zu danken Tag und Nacht nicht gesättigt werden konnte. Und aufs Gewisseste die Erfüllung der göttlichen Verheißung erwartend, bat ich Gott den Vater inständigst und sprach: Barmherzigster, gnädigster und gütigster Vater, da es dir gefällt, dass ich Deinen Sohn gebären soll, so bitte ich dich, dass du mir gnädig gewährst den Geist der Weisheit, damit ich, durch diesen belehrt, ihm nach seinem Willen dienen könne; die Gabe des Verstandes, damit ich, durch sie erleuchtet, seinen Willen erkennen möge; denn wenn er auf menschliche Weise geboren werden soll, so weiß ich, dass er nicht gleich reden wird; die Gabe des Rates, damit ich, durch sie gewarnt, in allem vorsichtig und ratsam mit ihm verfahren könne; die Gabe der Stärke, damit ich, durch sie gestärkt, vermögend sei, seine Gottheit mit schuldiger Ehrfurcht zu ertragen; die Gabe der Wissenschaft, damit ich, von ihr belehrt, alle diejenigen, die mit Ihm in Berührung kommen werden, klug zu unterweisen wisse; die Gabe der Gottseligkeit, damit ich, durch sie geleitet, seine Menschheit mit empfinden und Ihm in allem zu Hilfe kommen könne; die Gabe der Furcht, damit ich, durch sie demütig gemacht, Ihm mit Furcht und Liebe und schuldiger Verehrung diene!

 

Dieses sind die Gaben, die ich mir von Gott dem Vater erbat, ehe er mir seinen Sohn geben würde.

 

Erwäge nun meinen Gruß, wie ihn mir Gott sandte und der Engel mir ihn brachte, und du wirst finden, dass alle meine Bitten sind erfüllt worden!"

 

3. Als die Elisabeth, die Dienerin Christi, einmal ihrem Gebet oblag, erschien ihr die heilige Jungfrau Maria und sagte zu ihr:

 

"Du glaubst, meine liebe Tochter, dass ich jede Gnade ohne Arbeit besitze und erhalten habe; es ist aber nicht so; ich sage dir vielmehr: dass ich keine Gnade, keine Gabe und keine Tugend von Gott ohne große Arbeit, beständiges Gebet, heiße Sehnsucht, innige Andacht, häufige Tränen und viele Bekümmernis erhalten habe, indem ich mit Worten, Werken und Gedanken nach bestem Wissen und Vermögen ihm wohlgefällig zu sein strebte. Nur jene Gnade der Heiligung nehme ich aus, durch die ich in meiner Mutter Leib geheiligt war. Wisse, dass keine Gnade sich in die Seele hinabsenkt ohne durch Gebet und Leiden des Leibes!

 

Haben wir Gott dargebracht, was wir durch uns vermögen, sei es auch noch so gering, dann kehrt er selbst in unsere Seele ein, jene höchsten Gaben mit sich bringend, so dass die Seele gleichsam in sich vergeht, die Besinnung verliert und sich nicht erinnert, jemals etwas Gott Angenehmes gesagt oder getan zu haben. Dann erscheint sie sich selbst niedriger und verächtlicher als je vorher. Und was muss dann die Seele tun? Sie muss Gott für jene Gnaden andächtig preisen und ihm Dank sagen. Sieht nun Gott, dass die Seele sich selbst demütigt und ihn wegen der empfangenen Wohltaten hochrühmt, so macht er ihr solche und so große Verheißungen, dass es der Seele an ausreichendem Vertrauen auf sich selbst und an Zuversicht auf Gott fehlt, sich die Erfüllung der Verheißungen und ihrer eigenen längst im Stillen gehegten Wünsche zu erbitten. Aber ohne dass sie darum bitte, werden ihr diese Wünsche gewährt werden. Also tat er mir, denn mit dem Wunsch empfing mein Gemüt den Sohn Gottes, mein Geist entbrannte von der Begierde, Ihn zu besitzen, meine ganze Seele wurde mit unendlicher Wonne erfüllt und gesättigt, weil ich bei der Gewalt meiner Sehnsucht Ihn schon zu besitzen vermeinte.

 

Aber der fleischlichen Zunge fehlte es an Kraft, diese innere Glut in Worten auszudrücken; darum flehte ich nur um Erhaltung und Weihe meiner äußeren Sinne, zum Dienst der verheißenen Jungfrau. Gott aber, die innere Glut und die äußere Demut erblickend, sandte mir zu der ihm wohlgefälligen Zeit den Erzengel Gabriel, der mir, nachdem er mich gegrüßt, wie es das Evangelium erzählt, die göttlichen Verheißungen brachte. Ich aber, was tat ich? In tiefer Andacht beugte ich meine Knie, und mit gefalteten Händen sagte ich: Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort!

 

Da gab mir Gott seinen Sohn und die sieben Gaben des Heiligen Geistes. Und weißt du, warum er dies tat? Weil ich ihm glaubte und mich selbst demütigte.

 

Dieses habe ich dir gesagt, meine Tochter, weil ich will, dass du dich von deinem Fehler, so schwach im Glauben zu sein, besserst! Und wird dir von dem Herrn etwas verheißen, so sprich jenes Wort: "Siehe, ich bin die Magd des Herrn!" und weiche nicht von dem festen Glauben und der Erwartung des Verheißenen ab, bis du es erhalten hast. Folgt aber der Verheißung die Erfüllung nicht, so sage: "Ich habe etwas gegen den Herrn verbrochen, darum verdiente ich nicht, was er mir verheißen hat!" Denn nur durch das Verdienst eines großen Glaubens wird das ewige Leben erworben, und wer den Glauben nicht hat, verliert es!"

 

4. In der Vigilie der Geburt des Herrn, als Elisabeth den Herrn bat, er möchte ihr die Gnade verleihen, Ihn aus ganzem Herzen zu lieben, nahte sich Unsere Frau, fragte sie und sprach: "Wer ist es, der Gott liebt? Liebst du Ihn?" Jene aber fürchtete, die Frage zu bejahen, und fürchtete ebenso, sie zu verneinen. Da antwortete ihr in dieser Verlegenheit die allerseligste Jungfrau: "Willst du, dass ich dir sage, wer Ihn liebt? Es liebte ihn der heilige Bartholomäus, der heilige Laurentius und der heilige Johannes." Und sie fügte hinzu: "Willst auch du dich hingeben, geschunden und verbrannt zu werden?" Als jene nichts antwortete, sprach die Herrin weiter: "In Wahrheit, ich sage dir, wenn du zugeben wirst, dass dir alles genommen werde, was dir teuer und kostbar und liebenswürdig ist, und dein eigener Wille dazu; so will ich das Verdienst für dich erhalten, welches der heilige Bartholomäus sich erworben hat, als er geschunden wurde! Erträgst du geduldig die Beleidigungen, die man dir zufügt, so wirst du das Verdienst haben, welches der heilige Laurentius hatte, als er verbrannt wurde! Antwortest du nicht, wenn man auf dich schmäht und dich unter die Füße tritt, so wirst du das Verdienst haben, das der heilige Johannes hatte, als er Gift trank, und zu allen diesen Dingen werde ich helfend und stärkend bei dir sein!"

 

5. Unsere Liebe Frau sagte ein anderes Mal zur Dienerin Christi: "Weißt du, warum die Tugenden nicht gleichmäßig verliehen werden? Weil der eine nicht wie der andere demütig bitten, und die Tugenden, die er sich erbeten hat, sorgfältig bewahren kann. Und darum will Gott, dass demjenigen, der nicht hat, geholfen werde von demjenigen, der hat; was ich dir darum sage, weil ich will, dass du für dein eigenes und der anderen Heil emsig und andächtig betest!"

 

"Ich bin die Mutter der schönen Liebe, der Gottesfurcht, der Erkenntnis und der heiligen Hoffnung!" (Sirach 24,18)