Die acht Seligkeiten

(Fra Angelico, Die Bergpredigt)

 

Als Jesus die Volksscharen sah, stieg er auf den Berg, und da er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. Er tat seinen Mund auf und lehrte sie also:

 

 

Selig! Selig! Selig! Wie rauschen diese Sätze gleich dem Gewoge eines himmlischen Geläutes! Wie strahlen diese Worte einen Lichtglanz aus gleich dem Funkeln eines wunderbaren Edelsteins! Keine lange Erläuterung, keine Beweise, keine Nutzanwendung! Wie aus Erz gegossen steht ein Sätzchen neben dem andern: selig! selig!

 

Selig und immer wieder selig! Ach, was ist es doch um die Seligkeit. Sie ist gesucht in den Hütten der Armen, sie ist der erwartete Gast in den Palästen der Reichen. Seligkeit sucht das Kind bei den frohen Gespielen. Seligkeit ist der Stern, der noch am Bett des Sterbenden leuchtet und selbst dem Tod sein Grauen nimmt.

 

Selig! Selig! Es stimmt, das sind himmlische Aussichten, die sich uns hier auftun, herrlicher als einst dem Mose, als er vom Berg Nebo herniedersah. Das ist Himmelsluft, die uns aus diesen Worten entgegenweht, ähnlich dem sanften Säuseln, in dem einst der Herr auf Horeb an Elias vorüberging.

 

Selig und immer wieder selig! Wie klingt das so ganz anders, als es einst vom Sinai herabklang. In banger Furcht stand dort das Volk und durfte den rauchenden Berg nicht berühren und aus finsteren Wolken und aus zuckenden Blitzen heraus drang dort das Gebot Gottes: Du sollst! Du sollst nicht! Hier aber ist das erste und letzte Wort: selig, selig! Achtmal wiederholt der Heiland sein "Selig", und wie in einem Echo, das nicht enden will, klingt es vom Berg dort hernieder und tönt nach von Tal zu Tal bis in den verborgensten Erdenwinkel. 

 

Selig! Selig! Wie viele Versuche hat die Welt schon gemacht, auf ihre sündige Art selig zu werden! Auf wie viele Wege zu den Seligkeiten der Welt will sie die Menschen zwingen: Konsum, Selbstverwirklichung, Sex, Besitz, Egoismus, Tierquälerei, Krieg, Geld, Atheismus, Vernichtung, Abtreibung, Umweltzerstörung - um nur einige Seligkeiten unserer heutigen Welt aufzuzählen. Und was hat sie erreicht? Es gibt nun einmal keinen anderen Weg zum Glück, zur Seligkeit, ja der nach oben führt, es gibt nun einmal keinen anderen Höhenflug, als den Jesus uns zeigt: "Selig sind . . ."

 

Selig und immer wieder selig! Das sind die Königswege zum Himmel. Wir Christen kennen sie von Kindheit an und es gibt kaum etwas in der Biblischen Geschichte, das sich so leicht gelernt und so unauslöschlich dem Gedächtnis eingeprägt hat, als diese acht kurzen Sätzlein: selig, selig!

 

Lasset uns beten!

Ihr lieben Heiligen, nehmt uns getreulich bei der Hand, so wie es ältere Geschwister mit ihren jüngeren Schwestern und Brüder tun, damit auch wir unter eurer Leitung und nach eurem Beispiel den Berg der Herrlichkeit glücklich ersteigen. Amen.

 

 

"Und es geschah, als Jesus diese Worte vollendet hatte, staunte das Volk über seine Lehre."

 

Selig! Selig! "Wie das Rauschen vieler Wasser, wie das Spiel von Harfenspielern" (Offenbarung 14,2) ist es über des Heilands Lippen gekommen: selig und immer wieder selig! 

 

In lautloser Stille hing das Volk an seinem Mund und folgte es seinen Worten. "Und es geschah, als Jesus diese Worte vollendet hatte, staunte das Volk über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer der Macht hat und nicht wie ihre Schriftgelehrten und Pharisäer" (Matthäus 7,28).

 

In der Tat, es war etwas Neues, was der Heiland verkündete. Hier standen keine Schriftgelehrten und Pharisäer, wie sie das arme Volk zur Zeit Jesu gewohnt war, die das Himmelreich zuschlossen und den Menschen schwere und unerträgliche Lasten auflegten, aber sie wollten diese nicht mit einem Finger anrühren (Matthäus 23,13). Hier ist der Menschenfreund, der Sünderfreund, der voll himmlischer Liebe seine Arme ausstreckt: "Kommt alle zu mir, die ihr mühselig seid und beladen, ich will euch erquicken" (Matthäus 11,28).

 

Selig! Selig! In diesen ersten Wörtlein haben wir schon den ganzen Heiland. "Der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren war" (Lukas 19,10), das war ja sein Beruf auf Erden. Aufs Seligmachen war es angelegt bei all seiner Predigt von diesem ersten Wort auf dem Berg der Seligkeiten bis zu seinem letzten Wort, das er am Kreuz zu dem reuigen Sünder gesprochen: "Heute noch wirst du bei mir im Paradies sein" (Lukas 23,43). Aufs Seligmachen war es angelegt bei seinem ganzen Werk von diesem ersten Gang auf den Berg in Galiläa, bis er den blutigen Kreuzweg nach Golgotha hinaufschritt. Seligmachen war der einzige Ehrgeiz, den er gekannt hat.

 

Selig und immer wieder selig! Wie aus einer anderen Welt herüber dringen seine Worte herein in das irdische Hasten und Jagen. Unerhört ist ihr Inhalt. Er schlägt allem ins Gesicht, was man in der Welt bisher über Glück und Seligkeit gedacht hat. Aber was keinem Menschen gelungen ist, ihm ist es gelungen. Er hat den Seligkeitszeiger der Welt, der wie eine Magnetnadel unverrückbar nach dem einen Pol, nach den irdischen Gütern und Genüssen zeigte, umgestellt nach dem himmlischen Pol und dem ewigen Glück.

 

 

Ein neues Gesetz hat der Prediger vom Berg herab verkündet. Eine neue Weltordnung hat er aufgestellt. Einen neuen Weg hat er gewiesen für alle Zeiten.

 

Tausend und Millionen frommer Christen schon sind die Wege gezogen, die der Herr in den acht Seligkeiten gezeigt hat.

 

Nur acht von diesen Tausenden betrachten wir hier. Aber es sind ihrer viel, viel mehr, ein unermesslich großes Heer. 

 

Der heilige Johannes wollte sie zählen, als er einmal in den offenen Himmel hineinschauen durfte, die Heiligen alle, die auf den Wegen der acht Seligkeiten dorthin gelangt sind. Aber er kam nicht weit damit. "Zwölftausend aus diesem Stamm, zwölftausend aus jenem, 144.000 aus allen Stämmen der Kinder Israels." Dann aber vergeht ihm die Lust weiter zu zählen und er fährt fort: "Nach diesem sah ich eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; sie standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und Palmen tragend in ihren Händen und sie riefen mit lauter Stimme und sprachen: Heil unserem Gott, der auf dem Thron sitzt und dem Lamm" (Offenbarung 7,9f).

 

So haben wir in diesen Betrachtungen kommen sehen, "aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen": aus dem fernen Morgenland die heilige Maria Magdalena, aus Italien den heiligen Johannes Gualbertus, den heiligen Laurentius und die heilige Klara, aus Spanien den heiligen Ignatius, aus Portugal die heilige Elisabeth, aus Frankreich den heiligen Vinzenz von Paul, aus Deutschland den heiligen Heinrich. Kein Land gibt es auf Erden, das nicht seine Vertreter geschickt zur Huldigung vor dem Lamm. Kein Volk und keine Hautfarbe ist ausgeschlossen vom himmlischen Gottesreich. 

 

Aus allen Zeiten und Jahrhunderten kommen sie: aus dem Anfang der christlichen Zeit die heilige Magdalena, aus dem dritten Jahrhundert Laurentius, aus dem zehnten Heinrich, aus dem dreizehnten Klara, aus dem sechzehnten Ignatius, aus dem siebzehnten Vinzenz von Paul. Und auch im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert ist die Ernte noch nicht abgeschlossen. Auch in unseren Zeiten noch werden die Garben eingefahren in die ewigen Scheunen Gottes.

 

Aus allen Lebenslagen und Lebensverhältnissen, aus jedem Alter, aus allen Geschlechtern und Ständen kommen sie: aus der Klosterzelle Klara und Ignatius, aus der Sakristei Laurentius, aus dem Geheimen Rat Vinzenz von Paul, aus dem Königsschloss Elisabeth und vom Kaiserthron der heilige Heinrich. Jeder Stand hat seine Heiligen in den Himmel vorausgesandt. Aus dem Kriegslager kommen sie wie aus der stillen Mönchszelle, aus der Kinderstube und aus dem Zimmer des Gelehrten, vom Pflug des Landmannes und aus der Werkstatt des Arbeiters.

 

Auf die äußeren Lebensverhältnisse kommt es nicht an. Auf den Wegen der acht Seligkeiten kann jeder gehen. Wer nur will, kann tugendhaft leben und selig sterben - das zeigen uns unsere Heiligengestalten - gleichviel, wohin Gott ihn gestellt hat, gleichviel, welchen Geschlechtes und Alters, Standes und Berufes er sei, ob er im Kloster lebe oder in der Welt, ob er diene oder regiere, ob er auf den Höhen des Lebens wandle und angesehen sei vor der Welt oder ob er unbeachtet seinen Pfad dahinziehe oder in der Krankenstube seine Tage verbringe.

 

Überall und allezeit, in jedem Land und in jedem Jahrhundert zeigen dieselben Wegweiser zum Himmel. Es sind die, die der Heiland in der Bergpredigt aufgestellt hat: selig, selig!

 

 

Brüder und Schwestern, folgt uns nach! So rufen die Heiligen uns zu, die den Lauf vollendet und das Ziel erreicht haben. 

 

Glaubt nicht, dass sie Unmögliches von uns verlangen. Sie verlangen nichts anderes, als was sie selbst zuvor taten; ja sie verlangen nicht einmal soviel von uns; mit viel geringeren Leistungen schon sind sie bei uns zufrieden.

 

Sie sagen uns: ihr könnt nicht so arm werden wie wir; ihr könnt nicht allem entsagen und alles verlassen um Christi willen wie wir; ihr könnt nicht unsere Bußstrenge nachahmen. Gut! Aber der Sünde wenigstens entsagen und den Weg des Bösen verlassen und in ernster Reue eure begangenen Sünden tilgen, das könnt ihr.

 

Ihr könnt nicht soweit hinausgreifen mit eurer Wirksamkeit in die Welt wie wir; ihr könnt nicht so vieles tun für das Heil der Seelen und Taten vollbringen, von denen man nach Jahrhunderten noch sprechen wird. Gut! Aber für eure eigene unsterbliche Seele sorgen und für das Seelenheil derer, die euch anvertraut sind, das könnt ihr. 

 

Ihr könnt nicht Tage und Nächte lang im Gebet zubringen wie wir. Gut! Aber eure täglichen pflichtschuldigen Morgen- und Abendgebete andächtig verrichten, das könnt ihr.

 

Ihr könnt nicht solche Martern und Verfolgungen aushalten wie wir; ihr könnt nicht sterben für Christus wie wir. Gut! Aber leben für Christus, das könnt ihr.

 

Nein, die Wege der acht Seligkeiten führen nicht über steile Grate und schwindelerregende Abgründe. Jeder, der es ernst nimmt mit seinem Christentum, kann sie begehen. "Ich, der Gefangene im Herrn, ermahne euch, ein Leben zu führen, das des Rufes würdig ist, der an euch erging." (Epheser 4,1) Auf dem einem jeden angewiesenen Arbeitsfeld soll er den Samen der guten Werke ausstreuen; auf dem ihm zugeteilten Platz im Weinberg des Herrn soll er arbeiten, um den Denar des ewigen Lebens zu verdienen. 

 

Wer wagt es?

 

Es ist freilich keine tröstliche Aussicht, die der Heiland uns eröffnet. Nachdem er seine Bergpredigt so begeistert begonnen: "Selig, selig, selig seid ihr!" wird seine Rede auf einmal wehmütig, da er den Blick hinschweifen lässt über die Scharen zu seinen Füßen und er fährt voll innerer Bewegung fort: "Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind, die ihn finden" (Matthäus 7,14). Und wenn es Tausende und Millionen sind, es sind nur wenige im Vergleich zu den Scharen, die schon über die Erde dahingegangen sind.

 

Ja, es sind wenige und scheinen fast immer weniger zu werden. "Hilf, Herr", so möchte man mit dem Psalmisten beten, "hilf, denn die Heiligen haben abgenommen im Land" (Psalm 12,2).

 

Wenn wir in alle Klassen und Schichten der Christenheit hineinschauen könnten: wieviel Abfall und Lauheit, wieviel Scheinchristentum und Namenchristentum!

 

Wenn wir in alle Herzen hineinschauen könnten mit dem allsehenden Auge Gottes: wie viele Hörer und wie wenige Täter! Wie viele Berufene und wie wenige Auserwählte! Wie viel schöner Anlauf und wie wenig Früchte! "Zehn Joch Weinberg geben nur einen Eimer Wein und dreißig Scheffel Same nur drei Scheffel Weizen" (Jesaja 5,10).

 

Das tut freilich dem Heiland weh und tut uns weh. Aber tröste dich! Auch heute noch blüht manche fromme Seele im Verborgenen, wie die Rose unter den Dornen, wie die Lilie im einsamen Tal. Auch heute noch gibt es 7000 in Israel, die ihre Knie nicht beugen vor Baal. Auch heute noch liegen die Wege der acht Seligkeiten nicht einsam und verlassen da. Auch heute noch gibt es ein Häuflein, das auf ihnen geht. Auch heute noch erblühen Heilige.

 

Was diese konnten und können, das kannst du auch. Freilich, heilig wird man nicht an einem Tag. Aber die ersten Schritte dazu muss man mutig einmal tun. Wenn sie aber getan sind, dann nicht mehr rückwärts schauen! Vorwärts von Tag zu Tag, von Stufe zu Stufe, von Licht zu Licht, von Kraft zu Kraft, von Seligkeit zu Seligkeit, von Himmel zu Himmel, bis zum Strahlenthron des Allerhöchsten! Amen.

(Aus: Heiligenpredigten, Von Dr. theol. Emil Kaim, 1928)