Ein duftender Kranz um Maria mit dem Kinde

Blumenlegenden von Ina Hertin

 

Inhalt:

 

1. Die Legende der Lilie

2. Die Legende von den fliegenden Herzen

3. Die Legende der Birke

4. Die Legende der Seerose

5. Die Winde

6. Die Legende von den Erdbeeren

7. Die Legende von der Alpenrose

8. Das Distelfeld

9. Die Legende von der Blutnelke

10. Legende von der Akazie

11. Vom Holunder

12. Silberblätter

13. Wiesenschaumkraut

14. Vergissmeinnicht

15. Woher der Raps seine goldgelbe Farbe hat

16. Die Königskerze

17. Die Legende vom Rohrkolben

18. Das Zittergras

19. Unserer Lieben Fraue Pantöffelchen

20. Die Legende von der Rose

21. Die Legende vom gelbblühenden Steinbrech

22. Die Silberdistel

23. Die Legende vom Windröschen

24. Immortellen

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Regens Dr. Michael Rackl von Eichstätt schrieb am 4. Dezember 1927 im Vorwort zu dem Büchlein:

"Mit großer Freude habe ich mich in das Manuskript vertieft, das den Titel trägt: "Ein duftender Kranz um Maria mit dem Kinde. Blumenlegenden von Ina Hertin". Es sind reizende Legenden, denen ich eine Drucklegung herzlichst wünschen würde. Freude an der schönen Gottesnatur und Freude an unserer heiligen Religion müssen in jedem empfänglichen Gemüt erblühen, das diese sonnige Naturbetrachtung auf sich wirken lässt und die Naturschönheiten benützt, um daraus einen Kranz für die liebe Himmelsmutter zu flechten.

Was Bischof von Keppler in seinem goldenen Buch "Mehr Freude" geschrieben und gefordert hat in dem Kapitel "Freude und Naturgefühl", das finde ich in den herzigen Legenden von Ina Hertin verwirklicht: "Es sollte auch alles zusammenhelfen, um im Gemüt unseres Volkes das Naturgefühl wieder aus dem Schlaf zu wecken . . . Der Sinn fürs Kleine und die Fähigkeit sich am Kleinen zu erfreuen, ist auch hier sehr wichtig. Wer das hat, findet überall in der Natur Freudenblumen mit milchreichem Stengel und honigsüßer Glocke. Am Kleinen muss man dem Kind Verständnis für die Natur, Achtung, Schonung, Pietät gegen sie anerziehen: an der Blume, am Baum, am Quell, am Vogel." Ganz besonders liefern die Legenden eine prachtvolle Illustration zu dem Gedanken von Keppler: "Eine gesunde Religiosität wird gern den Bund eingehen mit der Liebe zur Natur, und ein edles Naturgefühl wird der Religiosität viel Nahrung und Schwung zu bieten vermögen."

Ich würde es deswegen außerordentlich bedauern, wenn es nicht gelänge, diese anmutigen, sinnreichen, belehrenden und erbaulichen Legenden von Ina Hertin durch Drucklegung einem weiteren Leserkreis zugänglich zu machen."

 

1. Die Legende der Lilie

 

Gott, der Herr, führte Adam und seine Gefährtin durch den Garten Eden und zeigte ihnen alle erschaffenen Schönheiten. Inmitten des Gartens aber stand der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Als Gott dem Paar erklärte, dass sie von der Frucht des Baumes niemals essen dürften, zeigte er auch auf eine schöne, schneeige Blume, deren Kelch auf einem langen, schlanken Stängel ruhte. „Seht sie an“, sprach er, „die Lilie, die Wächterin der Tugend, sie wird blühen und duften, solange ihr den Baum der Erkenntnis nicht seiner Frucht beraubt. Weh aber! Wenn sich eure Hand danach ausstrecken wird, muss die Blume verdorren und kann nicht eher wieder blühen, bis ein Menschenkind ohne Sünde geboren wird!“ – Von diesem Tag an, betrachteten die ersten Menschen die schöne, weiße Blume mit heiliger ehrfurchtsvoller Scheu.

Die Lilie duftete und blühte in nieverwelklicher Schönheit und das erste Menschenpaar freute sich darüber in kindlichem Glück.

Dieses Glück der Geschöpfe aber war eine große Pein für Luzifer, den gefallenen Erzengel, und er beschloss ihr Verderben.

In der geschmeidigen, schillernden Haut der Schlange steckte sein listiger Geist und er versuchte die Frau. Der Böse wusste die verbotene Frucht so süß und wohlschmeckend zu schildern, dass Eva ein heißes Begehren in ihrem Herzen fühlte. Doch Gottes Wort stand noch vor ihrer Seele und sie ging langsam vom Baum der Erkenntnis hinweg. Als Eva an der Lilie vorüberging, da neigte sie den Kelch und ein klarer Tropfen entfiel ihm. Wohl kannte damals die erste Frau noch nicht die schmerzliche Bitterkeit einer Träne, aber eine Traurigkeit durchzog ihr Herz, als sie die Blume weinen sah; und sie mied die Lilie und den Baum der Erkenntnis einige Tage. – Der Versucher fürchtete schon, es könnte ihm sein Plan missglücken.

Als Eva eines Tages wieder an dem Baum des Lebens vorüberschritt, flüsterte ihr der Versucher zu: „Frau, wie schön bist du, schöner als Adam, dein Gefährte; aber wenn du vom Baum der Erkenntnis erst gegessen haben wirst, bist du noch weit schöner, und Adam wird dir dienen; er wird dein Knecht sein und du wirst herrschen über den Garten Eden.“ – Diesen Lockungen konnte die betörte Frau nicht widerstehen, und sie brach die Frucht vom verbotenen Baum. Die Wächterin der Tugend aber, die reine Lilie verdorrte.

Als Gott, der Herr, die Sünde der Frau und ihres Gefährten sah, da trieb er sie aus dem Garten der Wonne in die raue, unfruchtbare Trostlosigkeit der Welt. Adam bat noch den Herrn, irgendein Kleinod aus Eden mitnehmen zu dürfen; und da es Gott gewährte, grub der erste Mensch unter Tränen die verdorrte Zwiebelwurzel der Lilie aus und nahm diesen Überrest des Wächters der Tugend mit sich in die Verbannung.

Mit diesem Kleinod war ein leises Hoffen verbunden, weil der Herr gesagt hatte, sie werde wieder blühen, wenn ein sündenloser Mensch geboren werde.

Adam hoffte bei jedem Kind, das ihm seine Frau gebar, es werde nun dieses Kind der verheißene sündenlose Mensch sein, und die Paradiesesblume werde wieder blühen und auch ihm und seiner Frau werde die verschlossene Pforte aufgetan und sie könnten wieder in frohem, unbeschwertem Kindersinn darin wohnen.

Aber mitten im schönsten Hoffen kam der Tod und holte das erste Menschenpaar in sein finsteres Schattenreich.

Adams Kleinod vererbte sich nun auf den ältesten Sohn, und von ihm aus ging es von Geschlecht zu Geschlecht.

Ein hölzernes Kästchen nahm das immer mehr verdorrte Kleinod auf. Seit des Urvaters Tod waren schon Jahrtausende im Strom der Zeit versunken.

Um jene Zeit erhielt Mathan das Kleinod und hütete es mit der ganzen Kraft seines hoffenden, gottgetreuen Herzens. Mathan hatte eine einzige Tochter mit Namen Anna. Diese schöne, fromme Jungfrau wurde Joachim, dem Tempelpriester, vermählt. Der neuvermählten Tochter nun gab Mathan als Hort ihres Hauses und Glückes das Kleinod aus dem Garten Eden. Anna und ihr Gemahl umgaben das Vermächtnis des Urvaters mit heiliger Ehrfurcht. Das Leben des frommen Paares ging ruhig dahin. Wohl zog ihr still-heiliges Gebetsleben Gottes Wohlgefallen auf sie herab, aber ein Kummer trübte auch ihr Glück; der Herr versagte ihnen den Kindersegen.

Anna und Joachim waren schon sehr bejahrt, da betete die fromme Frau recht innig, doch endlich die Schmach der Kinderlosigkeit von ihr zu nehmen.

Und siehe, Gott hatte Wohlgefallen an dem gläubigen Vertrauen Annas und er gab ihr in den Jahren, wo sonst eine Frau sich nicht mehr der Mutterhoffnung erfreuen kann, ein Kind.

An einem klaren, sonnendurchfluteten Herbsttag kam Annas schwere Stunde und sie gebar ein zartes Mägdlein von auffallender Schönheit.

Joachim musste in der ersten Vaterfreude an die wundersame Paradiesesblüte denken, dessen winzigen Überrest seine Frau ins Haus gebracht hatte, und er musste bei sich Vergleiche ziehen zwischen seinem lieblichen Töchterlein und dieser einst so hold erblühten Blume. „Ich will“, dachte er, „an des Kindes Wiege das Kleinod bringen. Es wird auch Anna, meine Frau erfreuen, weil doch sie das Kleinod aus ihres Vaters Hand empfing.“

Joachim tat, wie er sich vorgenommen hatte und brachte das uralte Kästchen an des Kindes Wiege.

Doch siehe, was war dies? Kaum stand das Kleinod an dem Kinderbettchen, da begann sich der Deckel zu heben und eine schlanke, duftende Blume, leuchtend wie der Schneegipfel des Hermon, stieg empor. Das fromme Paar erschauerte im tiefsten Innern, weil es nun wusste, dass der Herr es unendlich gesegnet hatte; denn das neugeborene Mägdlein Maria war die verheißene sündenlose Gottesmagd. So war durch die Geburt der reinsten Frau die Lilie wieder zu den Menschen gekommen und blüht seitdem in ewig reiner jungfräulicher Schönheit.

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2. Die Legende von den fliegenden Herzen

 

Das große Mysterium der Menschwerdung Gottes hatte im Schoß der Jungfrau begonnen. Das erbarmungsreiche, liebevolle Gottesherz pochte leise unter Mariens Herzen. Die Jungfrau, von heiligsten Schauern erfüllt, lebte in der ersten Zeit in völliger Weltentrücktheit. War sie doch zum Tempel geworden, und Gottes Sohn selbst wollte aus ihr den menschlichen Leib annehmen.

Nach dem ehrfürchtigen Staunen der ersten Monate kam über die werdende Gottesmutter eine große jubelnde Freude und sie empfand den heißen Wunsch, ihre überirdische Wonne irgendeiner Seele anzuvertrauen.

Wie Maria eben noch dachte, wem sie es wohl sagen möchte, da fiel ihr ihre fromme Base Elisabet ein und sie beschloss bei sich über das Gebirge zu wandern und sie zu besuchen. Maria tat, wie sie es sich gedacht hatte, und ging.

Es war ein wonnesames Wandern, so allein mit ihrem nahen Gott. Dieser Gang über das Gebirge war ohne alle Beschwerde für die heilige Jungfrau. Ihr war, als würde sie von unsichtbaren Flügeln getragen. Kein Stein tat ihr weh, kein Dorn ritzte sie, die wilden Tiere gingen gleich zahmen Lämmern an ihr vorbei und die Nattern flohen zischend vor der Gottesträgerin.

Das Gebirge lag hinter Maria, ein freundliches Tal nahm sie nun auf. Die Jungfrau rastete an einer murmelnden Quelle. Da kam wieder der Wunsch, ihr großes, heiliges Geheimnis mitzuteilen. Es dünkte ihr zu weit bis zu Elisabet, schon jetzt wünschte sie sich eine mitfreuende Seele. Aber weit und breit kein Mensch! Neben der ruhenden Jungfrau wuchs ein Sträuchlein mit feingefiederten Blättchen. Diese Pflanze nun ahnte wohl, dass Maria das höchste Mysterium des Weltalls in sich barg, und beugte sich herab in Mariens Schoß.

Die werdende Gottesmutter verstand sofort die kleine zarte Pflanze und drückte sie gegen ihr pochendes Herz. „Du liebes Pflänzchen“, sprach sie, „siehe, Großes tat an mir der Herr, er erkor mich zur Mutter des Messias, in meinem Schoß ruht mein Schöpfer, der Eingeborene des ewigen Vaters.“

Ein Zittern ging durch das Sträuchlein bis hinunter zur knorrigen braunen Wurzel.

Maria ging weiter zur Base Elisabet und ergoss dort all ihre Wonne in die stille, fromme Seele dieser Frau.

Nach wenigen Wochen zog es Maria wieder heim in ihr stilles Häuschen, wo sie die herrliche Engelsbotschaft vernommen hatte. Der Weg führte sie vorbei an der Quelle; und die Jungfrau beschloss wieder, ein wenig zu rasten.

Und siehe, eine holde Freude sollte hier ihrer werden: das Sträuchlein, das an Mariens wonnevollem Herzen geruht hatte, war nicht untätig gewesen. Mit der Macht der Liebe zum Schöpfer und zu dessen holder Mutter trieb es zarte Stängel dicht behängt mit hellroten, geflügelten Herzen. Eine tiefe und heilige Rührung verklärte die Züge der Gottesmutter und in ihrem Herzen dankte sie dem, der sie zu so hoher, gnadenvoller Ehre erkoren hatte. Die „Herzen Mariens“ aber, die reizvollen fliegenden Herzen, zieren noch heute zur Frühsommerszeit unsere Gärten.

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3. Die Legende der Birke

 

Als der Liebe Gott die Welt geschaffen hatte und alles wohl eingerichtet war, da kam der Teufel und fragte, wo denn eigentlich er sich niederlassen dürfte; denn er wolle auch einen Anteil an der Welt haben, und keinen kleinen.

Der liebe Gott wies seinem gefallenen Erzengel das Moor zur Heimstätte an.

Wohl tobte der Teufel noch lange draußen herum und stampfte den Boden mit seinen Pferdefüßen. Darob entstanden große Löcher, die sich mit dunklem Grundwasser füllten. In ihnen wurde das Geschlecht der Schlangen und Kröten heimisch. Die Engel sahen durch die Sternenfensterchen gar oftmals zum Moor herab. Dabei geschah es oft, dass ein Mitleidstränlein aus Engelsaugen hinabfiel. Diese Engelstränen nun fühlten sich im Teufelsmoor gar nicht wohl und wollten wieder dahin zurück von wannen sie gekommen waren. Das sehnsüchtige Streben zur Höhe erhörte Gott, und wo eine Engelsträne niederfiel, da begann ein Bäumlein zu wachsen mit zartgelockter Blätterkrone und einem lichten weißen Stamm. Die Engel sahen mit Freuden was aus ihren Tränen geworden war. Nun aber bestürmten sie den lieben Gott, er möge diese zarten, lieblichen Bäumchen doch aus dem Teufelsmoor nehmen und sie auf irgendeine freundliche Blumenwiese stellen. Dem oftmaligen Bitten der Engel gab dann der liebe Herrgott nach und erlaubte den beschwingten Himmelsbewohnern, hinabzufliegen und die Bäumchen aus dem Moor zu versetzen. Gleich einer zarten Wolke schwebten die Engel hernieder und zogen die Bäumchen heraus, deren Wurzelfüßchen sich schon vor seliger Freude selbst gelockert hatten. Eben wollten die Engel ihre liebliche Beute in Sicherheit bringen, als der Teufel, in eine dichte Schwefelwolke gehüllt, einherfuhr. „Ich,“ schrie er, „bin der Herr des Moores, mein sind die Bäume, her damit!“ Und schon entspann sich ein erbitterter Kampf. Der liebe Gott aber gab seinen Engeln den Sieg. Der Teufel wütete und tobte ärger denn je, so dass sich sogar die Schlangen und Kröten vor ihrem Herrn und Meister fürchteten. In des Teufels Klauen blieb manches Stück von dem seidig glänzenden Bast der Baumstämmchen zurück. Die Engel aber brachten voll des heiligsten Eifers die Bäumchen zu einer lieblichen Blumenwiese. Da aber wurden sie traurig, weil sie erst jetzt sahen was des Teufels Klauen an den Stämmchen für hässliche, schwarze Merkmale hinterlassen hatten. Der liebe Gott tröstete seine Engel und sprach: „Seid nicht traurig darüber! Wohin nun das Bäumchen kommen mag, sei es ein beredter Künder vom Kampf mit dem Bösen und von dem Sieg des Lichtes.“ Die Engel waren durch das Gotteswort getröstet und das Bäumchen, die zarte Birke, trägt zum Gedächtnis an den Kampf der Engel mit dem Teufel die weiße, zerschlissene Rinde mit den schwarzen Merkmalen der Teufelsklaue.

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4. Die Legende der Seerose

 

Schon seit Tagen währte die Flucht der heiligen Familie, die Wüste lag hinter ihnen. Die Gottesmutter und ihr frommer Gemahl priesen dankbaren Herzens Gott, dass nun der schwierigste Teil der Reise überstanden wäre. Voll frohen Gottvertrauens setzten sie die Reise fort. Der Weg, der nun kam, gab freilich der Wüste nicht viel nach: Dort barg die Gefahr sich in den scheinbar glatten, unbewegten Sandflächen; hier waren es wild zerklüftete Felsenpartien und dichter Urwald. Josef musste für sich und die Seinen erst mit der Zimmermannsaxt einen Weg bahnen. Angstvoll drückte die Gottesmutter das göttliche Kind an sich. Durch den Wald schimmerte es bläulich und das heilige Paar merkte mit neuem Schrecken, dass ein Waldsee ihren Weg versperrte. Wie sollten Sie weiterkommen? Auf der einen Seite ragten steile Felswände empor, auf der anderen Seite dichter, undurchdringlicher Urwald. Der heilige Josef prüfte mit seinem Reisestab die Tiefe des Sees und ersah daraus, dass man ihn nicht durchwaten konnte. Die Gottesmutter stieg von der Eselin und trat dicht an das Ufer. Vertrauend hob Maria die Augen zum Himmel und flüsterte: „Herr, rette deinen Eingeborenen! Du, der du ihn vor der blutigen Verfolgung errettet hast, lass uns hier nicht zugrunde gehen! Vater, erbarme dich deines Sohnes, erbarme dich unser!“ Und zum Waldsee sprach sie: „Deine große Stunde ist gekommen! Der Heiland, das Gotteskind, will dich segnen.“ Da stiegen leise, leise vom Grund herauf schlanke Stiele mit schönen, großen Blättern, die auf der Wasseroberfläche schwammen. Dichter und dichter kamen sie empor und bildeten einen Steg von einem Ufer zum andern. Die heilige Jungfrau betrat voll des heiligsten Gottvertrauens den schwankenden Steg, und siehe, Gott gab der schwachen Pflanze ungeahnte Kraft und auf der schwimmenden Brücke erreichte die heilige Familie das andere Ufer.

Das Jesulein aber auf der Mutter Arm hob das Händchen und segnete die hilfsbereiten Blätter. Da tauchten aus dem See liebliche weiße Blüten, mit einem gelben Staubfadenkrönlein inmitten, empor und schwammen auf dem Spiegel des Wassers. Maria durchrann ein heiliger Schauer, und sie küsste in demütiger, dankbarer Liebe des Händchen ihres göttlichen Kindes, dessen Segen die liebliche Seerose schuf.

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5. Die Winde

 

Im Häuschen zu Nazaret badete eben die heilige Mutter Maria ihr göttliches Kind. Dann schüttelte sie ihm das Bettchen zurecht in der Wiege, die Vater Josef gezimmert hatte, und legte es zur Ruhe. Das Wiegelein aber stand draußen im Gärtchen. Mutter Maria ging wieder in das Haus zurück und machte sich am Herd zu schaffen. Draußen begann es rege zu werden; denn alles Getier und der Wind, der lose Geselle, wollten das schlafende Gotteskind beschauen.

Das leichtbeschwingte Vogelvölkchen setzte sich rings um den Rand der Wiege. Es sang ein süßes Schlummerliedchen. Da lächelte das Kindlein im Traum.

Und die anderen alle, wie sie sich drängten und stießen! Denn jeder wollte doch wenigstens einen Blick in das Wiegelein tun. Als nun gar noch der Wind mit vollen Backen zu blasen begann, um die Tiere auseinander zu treiben, weil er gerne selbst den holden, kleinen Schläfer sehen wollte, da kam das Bettlein des Gotteskindes gar arg ins Wanken. Die Mutter Maria sah eben zur Tür heraus; der Schreck packte sie, es möchte ihrem Kind Unheil widerfahren.

Da wuchs am Weg des Gärtchens ein einfaches, wenig beachtetes Blümchen. Dies hätte nun zu gerne auch einmal das göttliche Kindlein in der Nähe betrachtet. Da streckte es sich und drehte sich und merkte mit geheimer, seliger Wonne, dass es wuchs.

Dies Blümchen sah nun der Gottesmutter Sorge, es könnten die ungestümen Tiere das Wiegelein zum Umfallen bringen. Da schlang es rasch seine zähen Ranken um die Schlingen der Wiege und siehe, sie stand still, ohne zu wanken. Maria trat heran, die Tiere sprangen in raschen Sätzen davon. Da gewahrte die heilige Mutter des Blümchens zarte Sorge und freute sich so recht von Herzen. Das Gotteskindlein erwachte. Da nahm es Maria aus der Wiege und zeigte ihm das bescheidene, hilfsbereite Blümchen. Da beugte sich das Kind vom Arm der Mutter hernieder, zog das erschauernde Blümlein an sich und küsste es. Dem Blümlein, der kleinen, zarten Ackerwinde, ist vom Kuss des Jesuskindes bis zum heutigen Tag ein rosiger Rand an seinem Blütenkelch geblieben.

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6. Die Legende von den Erdbeeren

 

Als der Engel des Herrn Josef befahl, mit dem Kind und seiner Mutter nach Ägypten zu entfliehen, da packte der erschrockene Mann die wenigen Habseligkeiten und die kostbaren Weihegaben der drei Könige zusammen. Eilends weckte er sodann Maria und hob sie samt dem göttlichen Kindlein in den Sattel des Reittiers. Eben wollten die Flüchtlinge den schützenden Stall verlassen, da sah Josef etwas im Mondlicht funkeln, wie Tropfen purpurnen Blutes. Es war eine kostbare Rubinkette, sie mochte ihm wohl in der Eile des Packens entfallen sein, sie gehörte mit zu den Gaben der drei morgenländischen Magier. Josef reichte die Kette Maria und sagte: „Birg sie an deinem Hals unter deinem Obergewand.“ Maria tat wie ihr geheißen wurde. Es war ein scharfer Nachtritt, den die Flüchtlinge machen mussten; denn bevor der Morgen graute musste der ferne am Horizont auftauchende Wald erreicht sein, um sich vor den sicher nachsetzenden Verfolgern zu verbergen.

Als Josef und Maria mit dem Kind tiefer in den dichten Urwald gelangt waren, da musste Josef mit dem Beil sich den Weg bahnen, um das zähe Geranke zu entfernen. Plötzlich aber hellte sich der Wald auf und eine liebliche Lichtung lud die ermatteten Reisenden zum Rasten ein.

Es war ein köstliches Ruhen auf der Flucht im Schattengezelt des Waldes von balsamisch kosenden Düften umweht. Nur eines quälte Maria: Es verlangte sie nach einer Erfrischung. Aber dort, wo sie sich befanden, rieselte kein Quellchen und keine essbaren Früchte wollten sich finden. Das Gotteskind saß auf dem Schoß der Mutter; kraft seiner göttlichen Natur aber blieb ihm nichts verborgen; es sah, dass seine Mutter litt.

Wie spielend griff das Kind nach der blutroten Rubinkette am Hals der Mutter; und obwohl das Kindchen nur ganz sachte hingetippt hatte, die Kette riss und die einzelnen Perlen rollten gleich Blutstropfen über Mariens Schoß in das schwellende Moos. Die Gottesmutter sah voll Staunen, dass ihr Kindlein lächelte und segnend das Händchen hob. Es dauerte nicht lange, da fing ein stilles Leben an im Moos. Die schönen blutroten Rubine hoben sich an zarten Stängelchen empor aus der Erde und waren keine schimmernden Steine mehr, sondern purpurglänzende, fein duftende Früchte. Das Gotteskindlein deutete mit seinen winzigen Fingerlein erst auf die Beeren, dann auf seine Mutter; und Maria verstand.

Sie pflückte die köstlichen Früchte, die ihres Kindes Schöpferkraft für sie wachsen ließ, und aß. Die Beeren hatten die Gottesmutter wunderbar gekräftigt und sie nahm sich noch ein Krüglein davon mit, als sie in der Stunde der Sonnenneige aufbrachen, um ihre Flucht fortzusetzen. Manches Beerlein entfiel dem Krüglein Mariens, und so verbreitete sich diese schlichte kleine Pflanze mit den blutroten, köstlichen Früchten in aller Welt. Die Mutter des Herrn aber gab ihnen den Namen „Beeren der Erde“, weil sie so niedrig wuchsen.

Die Menschen eines fernen Jahrhunderts aber nannten sie, wie sie heute noch heißen, „Erdbeeren“ und sie erfreuen alljährlich im Frühsommer die großen und kleinen Kinder dieser Welt.

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7. Die Legende von der Alpenrose

 

Maria, vom Heiligen Geist erfüllt, eilte über das Gebirge, um auch ihrer Base die frohe Botschaft des nahenden Heils zu verkünden. Da stieg sie denn höher und höher; und als die lieblichen Matten aufhörten, begann ein wild zerklüftetes Geröllfeld. Die Gottesbraut ging vorüber an Latschengebüsch und an Büschen mit dunkelgrün glänzendem, lederhartem Laub. Der dämmernde Sommermorgen sandte seine anmutige Botin, die Morgenröte, vor sich her. Ein holder, rosiger Schimmer blieb auch an den glänzend grünen Büschen hängen; und die Jungfrau von Nazaret war in ihres Herzens Tiefe entzückt, und sie rief: „Ich wollte, es bliebe der Rosenschimmer der Morgenröte an euch haften.“ Maria ging weiter, sie, die selbst die himmlische Morgenröte genannt werden konnte, da sie doch die aufgehende Sonne der Welterlösung in sich trug. Doch der Wunsch der werdenden Gottesmutter drang hinauf bis zum Thron des himmlischen Vaters, und er beschloss, die Morgenröte auf dem Strauch ruhen zu lassen. So segnete denn die Schöpferhand den einfachen Alpenstrauch und er brachte Blüten hervor in der Farbe der Morgenröte. Als die begnadete Jungfrau nach wenigen Wochen von ihrer Base schied und wieder gen Nazaret zog, da sah sie mit freudigem Entzücken, wie ihr Wunsch Wahrheit geworden war und die grünen Sträucher Blüten trugen. Segnend lag ihre Hand auf dem Strauch und sie sprach leise: „Sei gesegnet, liebliche Blüte; sei gesegnet, Rose der Alpen.“

Seit jenen Tagen nun glüht oben im Geröllfeld der Alpen die anmutige Alpenrose, und der Segen der werdenden Gottesmutter schuf um sie einen Bannkreis reinster, heiligster Gottesfreude.

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8. Das Distelfeld

 

Die Purpurgluten der scheidenden Sonne umlohten Nazaret. Miriam, des Josefs jungfräuliche Frau, saß im Gärtchen und weinte; sie weinte wie nur eine Mutter weinen kann, wenn die graue Sorge in ihrem Haus zu Gast ist. Die Not saß stets auf der Schwelle des friedlichen Häuschens, aber heute tat es der Gottesmutter bitter weh, betraf doch die Not ihr vielliebes Kind. Das Jesulein trippelte nun schon ohne mütterliche Hilfe einher. Es wuchs, aber die Hemdlein und Röcklein wuchsen nicht mit. Miriam hatte keinen Flachs, um Garn zu spinnen und daraus Hemdlein und Röcklein zu weben. Nun dachte die Gottesmutter voll Bangen an den rauen Atem des Winters, dem ihr liebes Kindchen in den schlechten Kleidchen ausgesetzt sein wird. Schon wurden die Tage kürzer und die Luft war von der durchsichtigen Klarheit des Herbstes.

Das Kind kam zur Mutter, es fragte mit seinem Stimmchen: „Mutter, warum tauen deinen Augen Tränen nieder?“

„Mein liebes Kind“, antwortete Miriam, „mein Kummer gilt dir. Siehe, der Herbst begann, der Winter ist nicht mehr fern, und deine Röcklein sind dünn und schlecht, und ich habe nichts, dir Besseres zu weben. Siehe, Kind, mein Herz bangt, wenn ich denke, dass du Kälte erleiden sollst.“

Des Kindes Augen wurden groß und seltsam ernst. „Meine Mutter“, sagte es, „soll nicht bangen: wir werden erhalten, was wir bedürfen. Wenn es des Vaters Wille wäre, könnte er mir ein Gewand senden, vor dessen Pracht die Pracht Salomos verschwinden würde. Der Vater aber will, dass sein Eingeborener in Armut sein Volk erlösen soll. Mutter, fasse Mut, habe Vertrauen!“ Miriam lag vor ihrem Kind auf den Knien, ein großes Staunen hatte ihre Seele erfasst. „Wie mein Herr es gebeut, geschehe es“, flüsterte sie, und eine heitere Ruhe durchflutete ihr ganzes Sein.

Das Jesulein war wieder das fröhliche Kind und sprang davon. Es lief zu seinem Nährvater, der eben den Esel zu der hinteren Gartenpforte hinaus ließ, damit er sich in dem angrenzenden Distelfeld gütlich tue. Das Kind ging mit dem Tier. Miriam stand noch am Zaun und sah ihr Kind zwischen den Disteln spielen. Angstvoll rief sie: „Mein Kind, mein Liebling, hüte dich vor den scharfen Stacheln der Disteln, komm zu deiner Mutter!“ – „Mutter“, antwortete das Kind, „fürchte dich nicht! Wie sollte die Kreatur ihre Waffen kehren gegen ihren Schöpfer?“ Da schwieg Miriam, das Kind aber ging umher, sprach zu den Disteln und streichelte sie und wohin das Kind ging, überall neigte sich die von aller Welt verachtete Blume ihm zu. Da nahm das Jesulein des Esels Zügel und ging langsam dem Haus zu, es nickte dabei den Blumen zu, gleich vertrauten Freunden, und als es das Gartenpförtchen erreicht hatte, hob es segnend die Händchen über das verachtete Distelfeld; die violetten Blütenhäupter neigten sich tief.

Die Nacht zog herauf, der Herr entzündete die stillfriedlichen Leuchten der Sterne und der Engel des Schlafes stieg zur Erde.

Überall war Ruhe, nur auf dem Distelfeld ging es lebhaft zu, ein Raunen und Wispern ging hin und her und die abgeblühten Blütenköpfchen sprangen auf und es entquoll ihnen ein Büschelchen seidenweicher, schneeiger Fasern.

Miriam schlief, da hörte sie im Traum ihres Kindes Stimme: „Mutter, das Distelfeld, das verachtete, hat erfüllt, was ich ihm geboten habe, es trägt Fasern, die nur du verstehen wirst zu spinnen. Mutter, nimm was ich dir schuf, dein liebes aufopferndes Herz soll keinen Kummer leiden.“ Die Gottesmutter erwachte, des Mondes Silberlicht zeichnete lichte Tafeln auf den Boden ihres Gemaches, sie erhob sich, warf ihr Obergewand über und verließ das Haus.

Miriam stand am Distelfeld und staunte das Wunder an, das ihres Sohnes Allmacht vollbrachte, glich doch das Feld den schaumgekrönten Wogen des Meeres. Die Gottesmutter begann die feine Pflanzenwolle abzunehmen und es verging darüber die Nacht.

Als die Sterne verblassten, erwachte die Welt vom Kuss der Morgenröte und des ewigen Vaters Sohn ging hinaus und suchte die Mutter im Distelfeld.

„Jesus, mein göttliches Kind, was hast du wiederum an mir getan?“ fragte die Mutter als sie ihn sah.

„Mutter“, erwiderte das Kind, „nimmermehr versagt der Vater, was wir bedürfen. Siehe, Mutter, die Distel war gestern im Abendlicht so traurig, weil sie dich weinen sah und so gerne trösten wollte; da gebot ich ihr, deinem Kummer abzuhelfen. Verachtet war sie von allem Volk, da habe ich sie erhoben zu deinem Dienst. Und nicht nur einmal soll sie dir Wolle geschenkt haben, sondern zum Gedächtnis an die Frau, die der Vater erhob über alle Töchter Evas, soll sie alljährlich ihre schimmernden Fasern der Welt schenken. Und sofern sie der Mensch nicht achtet, so mögen sie dienen den Vögeln des Himmels zum Bau ihrer Nester.“ Miriam nahm das Kind auf die Arme, das Kind, das die ganze Schöpfung überragte. „Wahrhaftig“, sprach sie in ihres Herzens Freude, „nichts ist zu gering und nichts zu arm, es findet Gnade vor den Augen des Herrn.“ Die Distel, verachtet unter allen Blumen, ist es, die kraft des göttlichen Segens hervorbrachte die schimmernde Liebfrauenwolle.

Des Gotteskindes Segen blieb auf der Distel. Wenn des Herbstes abgeklärte Schönheit die Welt regiert, steht die wehrhafte Distel im flaumigen Schmuck der Liebfrauenwolle.

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9. Die Legende von der Blutnelke

 

Im Frühsommer blüht auf den Wiesen eine kleine hübsche, purpurrote Blume; ihr Name ist: „Blutnelke“. Wie nun diese Blume zu ihrem Namen kam, erzählt uns eine alte Legende; ich will sie kurz und schlicht erzählen.

Als unser Herr und Heiland noch auf Erden wandelte, da liebte er alle seine Geschöpfe und nicht zuletzt die Blumen des Feldes. Unsere Blutnelke trug damals eine zarte, rosarote Farbe. Als der Heiland die ewig unvergänglichen Worte der Bergpredigt sprach, da hörte die kleine, zarte Blume zu; sie sah manch wunderbare Krankenheilung und hörte all die feinen, stillen Heilandsworte, wenn er, der Messias, der Gottgesalbte, mit seinen Jüngern des Abends durch die Felder schritt und sie lehrte. Einmal erlebte es die erschauernde Blume, dass der Herr sie pflückte und sie seiner Mutter in das liebe Häuschen zu Nazareth brachte; wie wohl wurde da dem Blümchen in des Schöpfers Nähe und bei ihr, der reinsten Frau. Die Zeit verging. Wieder war der raue Atem des Winters über die Fluren Palästinas gegangen. Langsam wollte es nun Frühling werden, der Jordan führte schon die eisigen Wellen des geschmolzenen Hermonsschnees mit sich und die Hänge begannen sich rostrot zu färben, denn die Knospen der Anemonen wollten in Bälde hervorbrechen. Im Tempel zu Jerusalem gärte der Hass unter Priestern und Pharisäern gegen den großen Rabbi und man sann, den Wundertäter von Nazareth zu verderben. Zu jener Zeit nun war es, dass der Heiland auf dem Füllen einer Eselin seinen Einzug hielt in Jerusalem, empfangen von den begeisterten Zurufen der wankelmütigen Kinder Israels. An der Straße aber, vor den Toren der Stadt, stand ein Büschelchen verfrühter Nelken und freute sich den Herrn gesehen zu haben.

Die unterwühlende Macht hetzenden Menschenhasses wiegelte das Volk auf, und drei Tage nach den Hosiannarufen erschallte das unheildrohende „Crucifige“.

Pilatus, der feige Römer, der fürchtete des Kaisers Gunst zu verlieren, übergab Jesus seinem Volk; dieses aber legte auf die Schultern des Messias, der gekommen war sein Volk von der Knechtschaft der Sünde zu erlösen, den Marterpfahl, um daran zu sterben nach ihrem Gesetz.

Die Straße, welche von Jerusalem hinausführte zur Schädel-Stätte, war dicht bevölkert, denn viele wollten hinaus, um den Nazarener sterben zu sehen.

Da nahte sich unter dem Geschrei der Menge der schmerzlich traurige Zug des Verurteilten und am Wegrand stand zitternd und bebend der zarte Nelkenbusch. Beim Anblick des dornengekrönten Heilandes nun, erbleichten die armen Blümchen und wurden weiß wie des Hermons schneebedeckter Gipfel.

Wohl wogte in des Heilands Seele ein Meer von Schmerz und Leid und die Kraft des Körpers erlahmte, er brach des Öfteren unter der Last des Kreuzes zusammen, aber sein allumfassendes Gottesherz fühlte nach wie vor, wo ein Geschöpf in leidvoller Liebe seiner gedachte. Als der Gottmensch nun an der kleinen, blassen Wiesennelke vorüber kam, wandte er das schmerzende Haupt nach ihr und sah sie voll dankbarer Liebe an, von der Dornenkrone aber fiel ein Tropfen Blut mitten in den zarten Nelkenkelch. – Langsam rötete sich die Wiesennelke und leuchtete in schönster Purpurfarbe, in der Tiefe des Kelches aber lag ein glutrotes Tröpflein.

So ist die kleine, bescheidene Wiesennelke zur Blutnelke geworden und heute nach fast zweitausend Jahren trägt sie noch diese Insignien der erlösenden Gottesliebe.

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10. Legende von der Akazie

 

Die Jungfrau von Nazareth hatte im stillen Stübchen das hohe, heilige Mysterium der Engelsbotschaft vernommen. Das demütige, wundersame Wort war gesprochen: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn.“ Die makellose Seele der Gottesbraut zog sich immer mehr in sich selbst zurück, wollte sie doch ganz dem hehren Wunder leben, das sich in ihr vollzog. – Nur an ihre gute, alte Base, an Elisabeth, des Zacharias Frau, dachte sie öfter und sie allein sollte es sein, der sie die heilige Frohbotschaft mitteilen wollte. So schickte sie sich denn an, und ging über das Gebirge.

Elisabeth verspürte eine seltsame Unruhe. Irgendein großes, wundersames Ereignis musste sich vorbereiten. – Wie oft war sie doch heute schon an ihres Hauses Tor gewesen um Ausschau zu halten nach irgendjemand, obwohl sie keine bestimmte Person erwartete. Wie beseligt war schon seit Monaten ihr Leben: Denn jetzt im hohen Alter war ihr der Segen der Mutterschaft verliehen worden, nachdem sie schon lange alle Hoffnungen aufgegeben hatte.

Wieder lief Elisabeth zum Tor. Da stieg langsam den schmalen steinigen Pfad herab Maria, ihre Base aus Nazareth.

Über die harrende Frau kam die Erleuchtung Gottes und sie erkannte die werdende Messiasmutter. Des Zacharias Frau eilte der mütterlichen Jungfrau entgegen und rief: „Wie kommt es, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“ Da umarmte Maria gerührt Elisabeth und die heilig-schönen Worte des Magnifikats kamen aus dem Innersten ihres Herzens. Eine große Stille ging über die Welt, alles lauschte der seligen Frohbotschaft von der kommenden Menschwerdung Gottes. „Der Messias, der Heiland ist nahe“, flüsterten sich alle lauschenden Geschöpfe zu. Neben Elisabeths Haus aber stand ein mächtiger, alter Baum, dessen einziger Schmuck unendlich zierliche, feine, zartgrüne Blätter waren. Dieser Baum nun war so beglückt von dem Gehörten, dass er sich zwang, sich hernieder zu neigen, um wenigstens mit den äußersten Spitzen seiner Zweige den duftzarten Schleier der heiligsten Jungfrau zu berühren.

Die werdende Gottesmutter fühlte diese sachte Berührung und wusste, dass der Baum von heiligster Ehrfurcht erfüllt war. Maria wandte sich zum Baum und sprach: „Weil du voll heiliger Ehrfurcht bist, so sollst auch du empfangen vom Segen, der in mir wohnt. Du, der du bis jetzt ohne Blüte warst, sollst blühen. Zart und fein, wie der Schleier meines Hauptes, den du in Sehnsucht berührtest, sollen dich weiße Blütendolden umgeben und der Wohlgeruch der Gottesgnade soll dich umwehen. Blühe und dufte zur Freude der Menschheit, Akazie, du liebliche.“

Alljährlich trug von diesem Tag an die Akazie den Blütenschleier, zart wie Mariens Haupttuch, rein wie Schnee und duftend wie die Tugend.

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11. Vom Holunder

 

Als der Herr den Holunder erschuf, gab er ihm eine rispenartige Blüte. Wie es aber zuging, dass heute die Blüte tellerförmig ist, dies erzählt eine liebliche Legende.

Das heilige Paar war auf der Flucht vor des grausamen Herodes wilden Knechten. Niemand von den Hirten, Jägern und Teppichhändlern, welche ihnen auf den geheimen Pfaden der Flucht begegneten, ahnten wer das fliehende Paar mit dem Kind wohl sei. Nur die Tiere, Bäume und Pflanzen am Weg wussten, dass jenes Kindlein ihr Schöpfer war, und alle freuten sich, einen Blick in das liebliche Antlitz des Gotteskindes tun zu dürfen. Das geschäftige Volk der Bienen, hatte es da gar besonders eilig; sie flogen weit voraus und raunten es allen Blumen und Blüten zu: „Hört, merket wohl auf: eine Frau wird vorüberkommen, sie trägt in ihren Armen den Gesalbten des Herrn, den Eingeborenen des Vaters im Himmel.“ Auf diese Botschaft hin strafften sich alle Pflänzchen, schüttelten alle Blumen ihre Röckchen zurecht, dass der goldene Blütenstaub flog, und Bäumchen, Sträucher und Bäume reckten sich um die Wette.

Auch der Holunder mit seinen gelblichweißen Rispenblüten erfuhr vom Vorübergang des Gotteskindes und alle kleinen Blütensternchen wollten recht genau das holde Kind sehen, sie kamen bei dem Versuch, möglichst weit vorne zu stehen, fast ein wenig ins Geräufe und schoben und drängten sich wacker.

Und als nun wirklich das heilige Paar mit dem Gotteskindlein vorüberkam, da waren die Rispen der neugierigen Blütensternchen, große, tellerflache Blütendolden geworden. Zur unaussprechlichen Freude des Strauches ruhte die Gottesmutter mit dem Kind und Sankt Josef in seinem Schatten. Nach der Rast aber segnete Maria den freundlichen Strauch und seine neugierigen Blütchen und schenkte ihm viele heilsame Kräfte für die sieche Menschheit.

Seitdem ist nun der Holunder ein Freund der Menschen geworden, der ihre Wohnstätten schützend umfängt und zur Frühsommerzeit im Schmuck seiner tellerartigen Blütendolde prangt; der Herbst aber findet ihn im Geschmeide glänzend schwarzer, wohlschmeckender Beeren.

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12. Silberblätter

 

Als Judas, der Verräter, sah, was er angerichtet hatte durch seinen schändlichen Handel, den er mit dem Menschensohn trieb, da packte ihn die Verzweiflung. In seinem Säckel befanden sich die dreißig Silberlinge, der Lohn der Hohenpriester für den Verrat. Judas ben Ischariot brannte das Geld wie Feuer und er rannte zurück zum Tempel und warf unter wilden Flüchen das Blutgeld den Anstiftern vor die Füße. Die Priester und Pharisäer waren durchaus nicht bestürzt, sie hatten es wohl schon so kommen sehen. Ihr erster Gedanke war, das Geld nutzbringen anzulegen; denn da es Blutgeld war, durfte es zu ihrem großen Leidwesen nicht mehr in den Tempelschatz gelegt werden.

Einem von den hohen Räten fiel ein, dass des Töpfers Acker käuflich wäre und längst schon wollte man eine Begräbnisstätte für jene haben, die anderen Glaubens und anderen Blutes waren.

Das hohe Synedrium war einverstanden mit dem Vorschlag und man kaufte den Grund und nannte ihn Blutacker. Das Grundstück war von jeher ein unfreundliches, unfruchtbares Stück Land gewesen und es gedieh nichts auf ihm.

Der nächste Frühling brachte nun allen eine Überraschung, denn auf dem Blutacker begann es zu sprossen und zu wachsen. Und der beginnende Sommer fand langstielige, tiefrote Blumen, es schien, als ob der Blutacker seinem Namen Ehre machen wollte und als wäre das Blut zu Blumen geronnen. Im späten Herbst, als die tiefroten Blütenblätter längst abgefallen waren, geschah eine gar merkwürdige Wandlung: die hohen Stängel waren bleich geworden wie Totengebeine und dort, wo vordem eine rote Blüte leuchtete, hing an fadendünnen Stängelchen eine silberglänzende Scheibe. Wenn der Wind durch diese gespenstischen Reihen ging, war es, als ob verdammte Seelen ein verzweifeltes Lied sängen. – Die Mitglieder des hohen Synedriums aber machten einen großen Bogen um den Blutacker, der ihre Schande und Blutschuld ihnen so deutlich sichtbar ins Gewissen rief.

Der Volksmund gab den glänzenden Silberblättern den Namen „Judassilberlinge“.

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13. Wiesenschaumkraut

 

Hinter dem Häuschen von Nazareth dehnte sich eine weite, saftgrüne Wiese, in deren Halme der Wind säuselnde Liedlein sang.

Des Zimmermanns Josef holdselige Frau, die liliengleiche Miriam, trug eben ein hölzernes Wännlein voll lauen Wassers heraus, um im goldenen Sonnenschein ihr Kindlein zu baden. – Voll jauchzender Freude plätscherte das Jesulein im Wasser umher und ließ es sich gerne gefallen, dass Mutter Miriam mit Seife und Lappen hantierte. Da geschah es nun, dass der Seifenschaum in dicken, schneeigen Flocken aus dem Wännlein spritzte und an den zarten, grünen Rispen des Grases hängen blieb. Freudig klatschte das Gotteskind in die Händchen und hatte ein helles Entzücken an diesen anmutig gezierten Gräsern. – Auch Miriam freute sich und wünschte lebhaft es bliebe der Seifenschaum unvergänglich an den zarten Rispen haften.

Die beginnende Nacht wob violette Schleier um das Häuschen von Nazareth, in der Wiege schlummerte das Gotteskind und die Engel des Himmels behüteten seinen Schlaf. Da jauchzte das Kind im Traum, denn die lichte Freude des Morgens stand vor ihm und auf den schlanken Halmen wiegten sich wieder die Schaumflocken. Das Traumengelchen, das am Wiegenrand saß, erblickte im Herzen des Jesuleins die Ursache seiner Freude.

Als es leise zu dämmern begann, flogen die himmlischen Wächter empor zum Thron Gottes und das Traumengelchen berichtete, was es geschaut im Herzen des Gotteskindes. Gott Vater aber, dem nichts verborgen ist, wusste längst um die Freude seines Eingeborenen und den Wunsch seiner jungfräulichen Mutter und er hatte die Gräslein gesegnet. Und dort, wo eine Seifenschaumflocke gehangen hatte, da entstand eine zarte, weiße Blütenflocke aus winzigen Sternlein gefügt. Als Miriam das heilige Kindlein durch all die junge Morgenseligkeit über die grüne Wiese trug, da sah sie voll inniger Freude das Gotteswunder, das sich über Nacht begeben hatte; sie zeigte die schneeigen Blütenrispen dem jauchzenden Kindlein. Miriam aber gab dem ehrfürchtig sich neigenden Kräutlein einen Namen, der ihm blieb bis in unsere Tage, sie nannte es nach seiner Herkunft „Wiesenschaumkraut.

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14. Vergissmeinnicht

 

Maria und Josef befanden sich mit dem göttlichen Kind auf der Flucht. Das Jesulein weinte, denn es hatte Hunger und die Gottesmutter sah um sich, ob sich denn nichts zeigen wollte, womit des Kindes Hunger zu stillen wäre. Doch nichts fand sich. Der Weg des heiligen Paares zog sich längs eines Bächleins dahin. Nachdem sie nun eine Weile so gegangen waren, sah die Gottesmutter mit seliger Freude, dass am Bächlein eine Frau beschäftigt war, ihre Linnen zu waschen. Maria trat auf sie zu und sprach: „Frau, hast du nichts, womit ich meines Kindes Hunger stillen könnte? Wahrlich, du sollst gesegnet sein.“ Die Frau lächelte freundlich und entnahm einem Körbchen, das neben ihr stand, ein Krüglein Milch und ein Brot, reichte beides Marien und sagte: „Wenn du mit dem wenigen vorlieb nehmen willst, was ich hier bei der Arbeit mithabe, so sei es dir herzlich gegönnt.“ Voll inniger Bewegung nahm es Maria und dankte, wie eben nur eine Mutter danken kann, wenn ihrem Kind eine Wohltat geschieht. Die heiligen Flüchtlinge ließen sich nieder an des Baches Rand und labten sich; des Kindes Augen ruhten voll freundlichen Ernstes auf der Frau. Da sprach die Frau: „Was habt ihr für ein wundersames Kind, seine Augen sind tief wie das Meer und sein Blick dringt in das Herz.“ Maria küsste das Kind und schwieg. Josef rüstete das Reittier und hob die heilige Mutter und das Kind hinauf, da beugte sich Maria nochmals hernieder und sprach zur Frau: „Der Herr vergelte, was du an uns getan hast, Frau; vergiss nicht meiner und gedenke meines Sohnes.“ So schied die heilige Familie und ließ die Frau in tiefem Sinnen zurück: „Wer mag die Fremde mit ihrem holden Kind sein?“

Doch niemand kam, um ihr diese Frage zu beantworten, da nahm sie denn das Linnen und ging heimwärts. Am nächsten Morgen ging die Frau, die eines Webers Frau war, wieder mit Linnen zum Bächlein, da gewahrte sie mit tiefem Staunen, dass an der Stelle, an der die seltsamen Fremden Rast gemacht hatten, kleine, liebliche Blümchen wuchsen, sie waren blau wie der Sommerhimmel und trugen inmitten ein Pünktchen, goldig wie die liebe Sonne. Da gedachte die Weberin der letzten Worte, die die schöne Frau beim Scheiden gesprochen hatte: „Vergiss mein nicht“ und so nannte sie nun die Blumen. Wieder stand die Frage vor ihrer Seele: wer ist die Frau und ihr holdes Kind?

Jahre, viele Jahre vergingen, die Weberin war alt und gebeugt geworden, aber weder die Jahre noch das Alter vermochte die Erinnerung auszulöschen, die jene seltsame Frau mit dem Kind hinterließ. Zudem blühten immer noch am Bachesrand die holden Blümchen „Vergiss mein nicht“. Da kam denn auch in das einsame Haus der alten Weberin die Kunde von dem wundersamen Rabbi Jesus, von dem es hieß, er wäre der Christus, der Retter Israels. Die Frau kannte nur einen Wunsch, den großen Rabbi zu sehen, aber sie konnte ihn nicht aufsuchen, denn sie war schon zu alt und schwach. Eines Tages nun saß die Frau vor ihrem Häuschen, da kam des Wegs, der neben dem Bächlein hinführte, ein Mann gegangen, dem Gewand nach ein Rabbi. Er ging auf das Häuschen zu und begehrte von der alten Weberin einen Trunk Wasser. Das Weiblein humpelte davon und brachte das Gewünschte, dabei sah sie ehrfurchtsvoll an der hohen Gestalt empor und eine Frage drängte sich ihr auf die Lippen: „Herr, bist du Jesus, den sie Christus nennen?“ Und der Fremde erwiderte: „Ja, ich bin es; warum fragst du mich, Frau? Was begehrst du?“ „Rabbi, ich weiß, dass du weise bist und dass dir Dinge offenbar sind, die uns anderen verschlossen bleiben“ . . . und schon wollte die Weberin die Geschichte von den himmelblauen Blümchen am Bachesrand erzählen, da tat sie einen Blick in Jesu Augen und rief: „Herr, du bist es, jenes wundersame Kind, das mir nie aus dem Gedächtnis entschwand. An deinen Augen habe ich dich erkannt; denn ihr Blick ist tief wie das Meer und dringt in die Tiefe des Herzens. Nimmer vergaß ich dich.“ „Frau“, nahm Jesus das Wort, „vergiss nicht mein und du brauchst nicht fürchten das Tal der Todesschatten; denn selig bist du, da du mich träntest, als ich dürstete.“ Der Meister erhob sich und wollte gehen, da hielt sie ihn zurück und reichte Jesus ein Sträußchen des zarten Blümchens Vergissmeinnicht. „Meiner Mutter Blume, die sie vom Vater erbat für dich zum Dank für deine Liebe“, sagte Jesus, „doch“, fügte er hinzu, „größer wird der Lohn der Ewigkeit sein, deshalb vergiss nicht mein“ und ging still von dannen.

Das liebliche Marienblümchen, das zarte Vergissmeinnicht, dies anmutige Sinnbild der Treue, ziert heute noch die Ufer der Gewässer.

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15. Woher der Raps seine goldgelbe Farbe hat

 

Zum Häuschen von Nazareth gehörten einige kleine Äckerlein, auf einem davon stand Raps. Sankt Josef baute es an, um daraus Öl für die tönernen Ampeln zu gewinnen. Der Knabe Jesus ging öfters an den Feldern entlang und freute sich ihres Wachstums. Damals nun blühte der Raps ganz unscheinbar grün und niemand wusste eigentlich so recht wann er blühte; es war eben ein unscheinbares, fast dürftiges Pflänzchen. Dies tat nun dem Jesuskind furchtbar leid und es sann nach, wie es da abhelfen könne; wohl wusste es, wenn es den Vater im Himmel bitten würde, könnte das Feld über Nacht die köstlichsten Blüten tragen, aber das Jesulein wollte sich selbst plagen und etwas herbeischaffen und dann den Vater bitten um den Segen der Vollendung.

„Mein Kind, was bedrückt dein sonniges Gemüt?“ fragte Maria ihren Sohn, als sie ihn auf den behauenen Balken des Zimmerplatzes sitzen sah, in ernstem Sinnen. Das Kind erzählte nun, wie leid ihm das Rapsfeld täte, das so unscheinbar wäre, nun aber wüsste es, was es tun wollte. „Wenn des Mittags Sonnenglut herniederbrennt“, sagte das Jesulein voll kindlichem Eifer, „werde ich die beiden großen Holzkörbe auf den Zimmerplatz stellen; wenn sie nun des Abends schwer voll sind vom Sonnengold, will ich sie hinaustragen auf das Äckerlein und über das Rapsfeld streuen. Die nächste Morgenröte soll dann schon die sonnengoldne Blüte sehen.“ Maria lächelte und schüttelte das Haupt. „Mein Kind, das Gold der Sonne lässt sich nicht in Körbe füllen und lässt sich nicht ausstreuen“, sprach sie, und ging in das Haus.

Zur Mittagszeit aber sahen Maria und Josef, wie das Kind die beiden Körbe zum Zimmerplatz trug und betend die Hände zum Himmel hob.

Des Abends aber erstaunte die Gottesmutter nicht wenig, als sie ihr Kind an den Körben stehen sah, die randvoll leuchtenden Goldes waren und siehe: neben dem Gotteskind standen zwei fremde schöne Kinder, die Kleider trugen, wie aus Mondlicht gewoben und diese Kinder trugen die Körbe hinaus auf den Acker und halfen dem Jesulein Sonnengold ausstreuen.

Des andern Tags beim ersten Morgenschein prangte wirklich das unbedeutende Rapsfeld im Goldglanz vieler kleiner, gelber Blüten.

Maria, die Mutter des Herrn aber kniete im stillen Kämmerlein an ihres Kindes Bettchen und erwog in ihrem Herzen, was Gott an ihr getan hat, weil er sie zur Mutter seines Sohnes machte.

„Adonai“, flüsterte sie und küsste die rosigen Hände ihres Kindes.

Das Kind erwachte und in der Tiefe dieser dunkelblauen Augensterne ruhte neben der demütigen Kindesliebe die wunderbare Urkraft göttlichen Schöpfertums.

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16. Die Königskerze

 

Der Winterwald liegt halb begraben unter Lasten von Schnee, die Dämmerung beginnt blaue Schatten zu weben. Eine heilige Feierstimmung liegt heute über der Welt, die Christnacht gleitet auf geweihten Schwingen hernieder. Im Wald wird es hell, das Gotteskind steigt alljährlich herab, um auch den armen Tierlein eine Christnachtsfreude zu bereiten. Mitten auf beschneiter Waldlichtung wird Halt gemacht; da strömt dann alles herbei, Groß und Klein, Freund und Feind, heute alles einträchtig gepaart. Heute ist die große Stunde, da den Tieren die Sprache verliehen ist und sie ihre verschiedenartigen Wünsche dem Christkind vortragen dürfen. Für jedes hat das Jesulein ein gutes Wort, einen milden Trost bereit, und zu guter Letzt auch einen Leckerbissen. Es herrschte dann ein großes Freuen auf der Waldlichtung und selig war das Gotteskind unter seinen Geschöpfen. Da kam der Engel der heiligen Nacht geflogen; das bedeutete für das Jesuskind die Botschaft zur Heimkehr, denn um die mitternächtige Stunde wurde die Geburt des Heilands im Himmel gar feierlich begangen. Doch das Gotteskind zögerte noch ein wenig, denn die Rehe und Hasen schmiegten sich gar zutraulich an und wollten das Jesulein noch nicht von sich lassen. Sogar Reineke Fuchs, der Erzschelm, bat ganz ehrbar, noch zu verweilen. Das Eichhörnchen zeigte seine besten Kunststücke, und die Waldvöglein stimmten ein süßes Lied an. In all die selige Freude klang nun plötzlich ernst und mahnend der feierliche Ruf der Weihnachtsglocken. Wie sprang da das Jesulein auf; nun galt es Abschied nehmen. Aber das liebevolle Herz des Gotteskindes hatte noch keine rechte Ruhe; irgend ein besonderes Zeichen der Liebe wollte es seinen lieben Tierchen noch geben zum Andenken an diese stillen Feierstunden, in denen Schöpfer und Geschöpfe so innig miteinander verbunden waren. Ein frohes Lächeln glitt über das Antlitz des göttlichen Kindes. Rasch nahm es einem der lichtertragenden Engelein die schlanke, gelbe Kerze ab und stellte sie inmitten der Waldlichtung in den Schnee. Dann schwang es sich mit seinen lichten Himmelsboten zur Höhe des Himmels. Das Christlicht brannte nieder. Bis zum letzten Flackern umstanden es die Tiere des Waldes, dann aber suchten alle husch, husch ihre Schlupfwinkel auf. Als aber der Lenz gekommen war, da begann es an der Stelle zu keimen, wo das Gotteskind das Christlicht niedergestellt hatte. Der Sommer enthüllte das holde Geheimnis. Eine schlanke, hohe Blume stand an der Stelle, mit goldfarbenen Blütchen übersät. Da kamen sie alle heran die Tiere des Waldes und bestaunten den lieblichen Fremdling. „Seht“, rief das muntere Eichhörnchen, „die Kerze des Gotteskindleins ist aufs neue erstanden. Lasst uns der Blume einen Namen geben!“ „Die Hand des Himmelskönigs rief sie hervor“, flüsterte schüchtern das Reh, „so lasst sie uns Königskerze heißen.“ Das Gotteskindlein, das das Gespräch der Tiere hörte, war zufrieden damit und so blieb der goldig schimmernden Blume der Name „Königskerze“ und Jesuleins Segen ruhte auf ihr.

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17. Die Legende vom Rohrkolben

 

Maria und Josef mit dem Gotteskind kamen auf der Flucht an einen großen See. „Josef“, sprach still die Gottesmutter, „was soll nun werden? Wie sollen wir über den See kommen? Können wir nicht einen anderen Weg einschlagen?“ „Gerne würde ich es tun“, antwortete Josef, „doch wir müssen die kürzesten Wege nehmen, um sicher zu sein vor den grausamen Knechten des Herodes.“ Der See trug rings um seine Ufer einen dichten Schilfkranz. Josef ging am Ufer entlang, um nach irgendeiner Möglichkeit Ausschau zu halten, und siehe, sein Gang war nicht vergebens getan, denn im Schilf entdeckte er ein Fischerboot. Der heilige Nährvater des Gotteskindes zog das Boot ans Ufer und brachte Maria und das Kind samt dem Reittier sicher unter. Er selbst führte das Ruder. Leise glitt das Boot am Schilf vorüber. Von der heiligen Mutter und ihrem hehren Kind ging ein sanftes, holdes Licht aus und da wurden denn das Schilf und die Rohrkolben aufmerksam; sie reckten und streckten sich, denn jedes wollte das liebliche Bild in sich aufnehmen. Ein großer prächtiger Rohrkolben, der unter seinen Artgenossen als besonders klug und weise galt, erkannte in dem Kind seinen Schöpfer. Wie ein Flüstern ging es nun durch das Schilf: „Lasset uns neigen vor dem Kind und seiner Mutter, es ist Gottes Sohn, der Mensch geworden ist, um die Menschheit vom Übel der Sünde zu erlösen.“ Der große kluge Kolben neigte sich besonders tief um ja dem Jesulein in sein liebliches Antlitz sehen zu können. Das Gotteskindlein erwachte am Schoß der Mutter. Da sah es vor sich den Rohrkolben; seine Augen weiteten sich wie im jähen Schrecken und zwei Tränen perlten über seine Wangen. Das Boot glitt weiter. Maria überkam eine große Bangigkeit und sie fragte bei sich: „Warum weint mein Kind beim Anblick des Rohrkolbens?“ Da war es ihr, als vernähme sie aus weiter Ferne die Worte: „Und deine Seele wird ein Schwert durchdringen.“ Der große kluge Rohrkolben sprach nun ebenfalls voll Staunen zu den Seinen: „Warum wohl weint das Gotteskindlein, wenn es einen aus unserem Geschlecht sieht? O, wie wollte ich doch alles dahingeben, wenn ich diesem Kind dienen dürfte, und sollte es nicht sein dürfen in Freuden, so wollte ich ihm auch dienen im Leid.“ Die Rohrkolben und das Schilf an jenem einsamen See flüsterten von Generation zu Generation vom Gotteskind, das da weinte bei ihrem Anblick.

Da kam einmal ein Tag, der nicht war wie die anderen. Es lag wie verhaltenes Weh über der Schöpfung und die Sonne verfinsterte sich zur mittägigen Stunde und im Innern der Erde grollten die Stimmen der Tiefe. Die Rohrkolben im einsamen See schauderten zusammen und leise, leise raunten sie sich zu: „O, wollte doch das Gotteskind wieder einmal vorüber kommen und diesmal sollte es nicht weinen, sondern segnen sollte es uns.“ Da kam eine Nachtigall geflogen und schluchzte ein Lied und alles begann zu lauschen; die Rohrkolben und das Schilf reckten sich und lauschten voll Hingabe, denn das Lied der Nachtigall war vom Leben, Leiden und bitteren Sterben des Gottessohnes, des Weltheilandes. Als das schmerzliche Lied zu Ende war, da rauschte es im Schilf auf, es war mehr ein Schluchzen; denn nun wussten die Rohrkolben, warum das Gotteskind einstens geweint hatte bei ihrem Anblick. Denn als Jesus gegeißelt und mit der Dornenkrone grausam gekrönt wurde, da gaben ihm die Soldaten zum Spottgewand einen Rohrkolben als Zepter der königlichen Würde in die Hände.

Seitdem nun zieren die ernsten, braunen Rohrkolben zur Erinnerung an Jesu bitteres Leiden und Sterben den Herrgottswinkel in den Stuben frommer Menschen.

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18. Das Zittergras

 

Neben dem Häuschen zu Nazareth dehnte sich eine weite, schöne Blumenwiese; sie war des Gotteskindes stille Wonne. Wenn nun Maria im Haus beschäftigt war, da trug sie ihr Kindlein auf die Wiese, setzte es mitten hinein und hieß die Blumen fein artig spielen mit dem Jesuskind. Dies geschah denn oft und die Blumen spielten mit dem Gotteskind und freuten sich; von seiner Hand ließen sie sich gerne brechen. Das Jesulein sprach mit den lieblichen Blumenkindern, es erzählte ihnen vom Vater, der Himmel ist, der da keines seiner Geschöpfchen vergisst, der nach seiner Weisheit Regen und Sonnenschein kommen lässt. Und weiter erzählte es den aufhorchenden Blumen von einem Blumengarten ganz besonderer Art, der über den Wolken in der ewigen Schönheit des Himmels erblühen soll. Es seien dort die Seelen der Makellosen die Lilien, die Büßer seien die dunkelleuchtenden Rosen, die Iris würden die Scharen der Gerechten darstellen, die Skabiosen jene, die um Gottes willen arm geworden wären. Wie freuten sich da die Blumen und waren ganz versunken im Zuhören. Das Jesulein wand dabei einen schönen Blumenstrauß, um seine heilige Mutter damit zu erfreuen. In dem Strauß nun ging ihm noch etwas ab und deshalb begann es suchend umherzugehen, da sah es, was es noch haben wollte. Dort stand was es begehrte, nämlich ein Büschel lieblichen Grases mit zierlicher Rispe. Da eilte das Gotteskindlein darauf zu und wollte es brechen, da rief das stolze, törichte Gras: „Was willst du von mir, lass mich in Ruhe, ich will mich nicht pflücken lassen, ich will nicht, auch nicht von dir; geh fort und lass mich allein, magst du mit den andern, gemeinen Blumen spielen, sie sind froh, wenn du sie pflückst, aber mich lass aus dem Spiel.“ Das Gotteskind wandte sich ab und ging weinend mit seinem Blumenstrauß zur Mutter und klagte sein Leid. Die Gottesmutter schmerzte es tief, dass ein Geschöpf es wagte, den kleinen Gottessohn zu beleidigen, sie nahm denn das Jesulein an der Hand und ging hinaus auf die Wiese. Maria sprach zur hochmütigen Pflanze: „Weißt du, wen du dich unterfangen hast zu beleidigen? Ahnst du, wer dieses Kind ist? Soll ich es dir sagen?“ Noch stand das Gras stolz und ungerührt da. Maria sagte ernst: „Dein Stolz wird dich noch bitter reuen; das Kind, das dich pflücken wollte, ist Jesus, des ewigen Vaters Sohn, der Heiland der Welt.“ Wie erschrak die törichte Pflanze, als sie hörte, wen sie abgewiesen hatte; ein heftiges Zittern befiel das stolze Gras. Die Gottesmutter wollte das Gras, das das heilige Kind beleidigt hatte, nicht mehr unter den lieblichen unschuldigen Blumenkindern auf der Wiese dulden und wollte es irgendwohin in die Wildnis verbannen. Das Gotteskind aber, das die Gedanken seiner Mutter sah, sagte: „Mutter, lass ab von ihm, es ist für seinen Hochmut gestraft genug; denn wisse, das Zittern wird bleiben, der Vater im Himmel wird es ihm nimmer abnehmen. Es soll das Zittergras ein warnendes Beispiel sein allen Stolzen, die sich nicht beugen wollen vor Gott.“

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19. Unserer Lieben Fraue Pantöffelchen

 

Draußen im Moos führt ein schmaler Weg am murmelnden Bächlein entlang und dieser Weg mündet an einer kleinen uralten Kapelle, „Unserer Lieben Fraue im Moos“ genannt. Von dem Liebfrauenbildnis in der Kapelle geht eine wunderliche Legende, die ich ganz schlicht erzählen will.

Einstmals saß hier die Gottesmutter im reichen Gewand, mit dem gleißenden Sternenmantel angetan, auf dem Thron, das göttliche Kindlein auf dem Schoß; und zwei feine, kostbare Pantoffel vervollständigten den Glanz und Schimmer. Einmal kam eine Maiennacht so recht voll seligen Mondscheinzaubers. Da bewegte sich das Gotteskindlein ein wenig, tippte seine himmlische Mutter an und sprach mit silberheller Stimme: „Mütterlein, lass uns ein wenig hinausgehen und über die Wiese schreiten; siehe, der Mond hat uns Teppiche gewoben.“ Maria lächelte und nickte freudig. Auch sie zog es in die klare Maiennacht. Sie raffte ihre Gewänder, drückte ihr Kind fest an sich und stieg von ihrem Thron. Die goldenen Pantoffel klapperten auf dem roten Fliesenboden der Kapelle.

Draußen nun, welche Seligkeit, als die Gottesmutter ihr Kind über die schlafenden Wiesen trug! Der Mond wob immer schönere Silbergespinste zu Ehren der himmlischen Fraue. Als nun gar noch einige liebliche Engelsbübchen herniederflogen, um mit dem Jesuskind zu spielen, da hob Maria es vom Arm und setzte es in die schwellenden Moospolster. Vom Jauchzen des spielenden Gotteskindes erwachten sachte die Blumen und Gräser und freuten sich mit; die Frösche quakten so froh und lustig als sie nur konnten, und einer der grünbefrackten Springer hüpfte dem Gotteskind auf das ausgestreckte Händchen. Ganz sachte strich das Jesuskind den kühnen Frosch und setzte ihm sein gülden Fingerringlein als Krone auf. So hatten auf einmal die Moosfrösche einen König von Gottesgnaden.

Unsere Liebe Fraue sah dem holden Spiel des Gotteskindes zu und konnte sich kaum sattsehen daran. Die Engelein wurden nicht müde und auch die Blumen wurden des Spieles nur immer froher. Keines von allen gewahrte, dass der Mond blass und blässer wurde und dass im Osten ein feiner, rosiger Rand zu wachsen begann. Ein kleiner verfrühter Sonnenstrahl lugte neugierig über das Moos. Wie aber erschrak da Unsere Liebe Fraue, dass sie so lange auf der Wiese geweilt hatte! Rasch nahm sie ihr Kind auf die Arme und lief eilig der Kapelle zu; denn der neugierige Sonnenstrahl hatte gleich noch zehn andere geholt, damit auch sie das seltsame Bild auf der Mooswiese sähen. Aber o weh! Als die Gottesmutter wieder in der Kapelle war, wurde sie gar traurig, denn im eiligen Laufen hatte sie ihre Pantoffel verloren. In der nächsten Nacht ging Unsere Liebe Fraue suchen. Aber die Pantoffel waren verschwunden; sie waren bei der eiligen Flucht im Moos stecken geblieben.

Seitdem sitzt nun „Unsere Liebe Fraue im Moos“ bloßfüßig im Königsmantel auf ihrem Thron. Die Pantoffel aber sind nicht verloren gegangen; denn als der nächste Frühling kam, wuchsen an der Stelle, an der Mariens Schuhe im Moos verborgen lagen, gar wunderhübsche gelbe Blümlein, die alle die Form von Pantöffelchen hatten. Dies ist nun die Legende vom unbeschuhten Marienbildnis in der Kapelle im Moos und von dem lieblichen Blümchen „Frauenschuh“, das auch den Namen trägt „Unserer Lieben Fraue Patöffelchen“.

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20. Die Legende von der Rose

 

Als Gott, der Herr, Adam und die Frau nach dem Sündenfall aus dem Paradies wies, sah ein blühender Rosenstrauch mitleidig dem vertriebenen Paar nach. Der Herr sah es und sagte: „Hast du Mitleid mit den Menschen, die im Garten der Wonne lebten und doch sündigten?“ Die Rose nickte bejahend im Abendwind. Da sprach Gott: „Töricht bist du; doch dein Herz ist gut. Ziehe also nach deinem Willen den Menschen nach! Aber der Fluch, der auf dem sündigen Paar liegt, ruht nun auch auf dir. Dornen wirst du tragen, und erst wenn die Zeiten sich erfüllen, sollst du wieder Rosen haben.“

Jahrtausende sind vergangen seit der Austreibung aus dem Paradies. Missachtet von den Menschen, die zahlreich die Erde bevölkern, wuchert der Dornstrauch. Zu jener Zeit war es, als in Nazareth, im Land Galiläa, eine herrliche Jungfrau sich in ihrem Gärtchen erging, um in den Blumen und Sträuchern die Größe des Schöpfers zu betrachten. Da kam vom Himmel herab ein Engel des Herrn – Gabriel war es, der Erzengel – und sprach zur Jungfrau: „Gegrüßet seist du, Maria, du bist voll der Gnade, der Herr ist mit dir; du bist gebenedeit unter den Frauen!“ Maria erschrak ob dieses Grußes. Der Engel aber sprach weiter: „Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott! Siehe, du wirst empfangen und einen Sohn gebären. Du wirst ihn Jesus nennen, und er wird groß sein und Sohn des Allerhöchsten genannt werden.“ Die Jungfrau erwiderte zaghaft: „Wie kann das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ Da sprach Sankt Gabriel: „Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten.“ Maria antwortete demütig: „Siehe, ich bin eine Magd des Herrn, mir geschehe, wie du gesagt hast!“ Und siehe, sogleich war der Garten erfüllt von Lilien, eine rosige Wolke stand über der betenden Jungfrau, silberhelle Engelsmusik klang in den Lüften. Als Maria die Augen hob, sah sie, dass sich unter die Lilien auch ein Dornbusch gemischt hatte. Da erschrak sie und bange Furcht beunruhigte ihr Herz. Mit feuchtschimmernden Augen blickte sie auf zum Himmel und sprach nochmals feierlich: „Herr, mir geschehe nach deinem Willen!“

Die Jungfrau war einem Mann, dem Zimmermann Josef, verlobt. Beide stammten aus dem Hause David. Als die Zeiten sich erfüllen sollten, befahl der römische Kaiser Augustus eine Volkszählung im ganzen Reich. Zu diesem Zweck begab sich Josef mit Maria, seiner verlobten Frau, nach Bethlehem im Lande Juda, um dort seine Angaben zu machen. Der Weg war weit und unendlich mühevoll. Mit heimlicher Sorge betrachtete Josef gar oft die Jungfrau an seiner Seite. Ihre schönen, dunkelblauen Augensterne blickten traurig den steinigen Pfad entlang. „Ach Josef,“ sagte sie leise, „ich kann es dir nicht mehr verhehlen, dass eine große Angst mein Inneres erfüllt; denn siehe, unsere einzigen Weggefährten sind spitze Steine und manchmal ein Dornbusch. Sollte das der Lebensweg des kommenden Messias sein? Wenn diese Dornen und Steine seine zarten Füße und Hände ritzen und verwunden, wie müsste das mein Herz schmerzen!“ „Maria,“ sprach Josef, „groß ist der Herr und groß sind die Werke seiner Hände. Dir aber hat er das höchste Kleinod anvertraut, seinen eingeborenen Sohn. Glaube mir: Der Herr in seiner Liebe wird seine heiligen Engel senden und den Messias schützen vor Disteln und Dornen, Steinen und bösen Menschen.“ Mit dankbaren Blicken sah Maria ihren verlobten Mann an. Ihre Züge spiegelten den Frieden ihrer reinen Seele und in demütiger Liebe hob sie die Augen auf zum abendlichen Himmel. In der Ferne schimmerten Bethlehems weiße Häuserschar. Als sich das Paar den ersten Häusern näherte, begann Josef für sich und die ruhebedürftige Frau nach einer Nachtherberge zu fragen. Fast die ganze Stadt hatte der arme Zimmermann bereits abgefragt, und überall wurde ihm der gleiche Bescheid gegeben. Keiner wollte die Fremdlinge in ärmlicher Kleidung in sein Haus aufnehmen. Maria war sehr bleich geworden. Schwer stützte sie sich auf des Mannes Arm. Da ging Josef rasch entschlossen einem Stall zu, der vor der Stadt lag. Tränen traten in der Jungfrau Augen, als sie den schlechten, von Dornen und Disteln umwucherten Stall betrachtete. Sie dachte an das göttliche Kind, das in dieser armen Hütte in das Leben treten soll. Josef richtete von dem vorhandenen Stroh ein Lager her und breitete sein Oberkleid darüber. Dann nahm er den tönernen Wasserkrug, den er im Stall fand, und ging, um Wasser zu schöpfen. Maria war allein.

Als Josef sich nach einer Stunde dem Stall näherte, blieb er betroffen stehen. Die Dornbüsche und Disteln trugen gar wundersame Blüten in den Farben des Abendhimmels, zarten Duft strömten sie aus in der rauen Dezembernacht. Sonnengleiche Helle strahlte aus dem armen Stall. Als Josef in das Innere trat, ging ein heiliger Schauer durch seine Seele und willenlos entströmten seinen Augen Tränen. Das Bild, das sich ihm bot, zwang ihn auf die Knie. Maria, die jungfräuliche Mutter kniete, ganz im Anschauen versunken, vor ihrem göttlichen Kind, das in Windeln gehüllt, in der mit Heu gefüllten Krippe lag.

Josef stand auf, ging vor die Hütte und brach einen Zweig blühender Rosen. Er brachte ihn dem Kindlein. Es griff danach und schon zeigte sich am winzigen Händchen ein Blutstropfen, zum unaussprechlichen Schmerz der Mutter. Da wandte das Kindlein sein Köpfchen ihr zu und deutete mit lieblichem Lächeln auf die schimmernden Rosen.

Maria und Josef, die reinste Mutter und der arme Zimmermann, wussten nun, dass nach dem Dornenweg des Lebens durch des göttlichen Heilands aufopfernde Liebe allen denen, die eines guten Willens sind, die Rosen des Heiles erblühen werden.

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21. Die Legende vom gelbblühenden Steinbrech

 

Draußen inmitten des dichten Forstes liegen die Trümmer einer längst verfallenen Burg. Nur von der Schlosskapelle stehen noch einige Mauern. Der Altarstein, von Wind und Regen verwittert, zeigt noch deutlich die Nische, in der einstens der Herr in Brotsgestalt geweilt hatte.

In dieser Kapelle wohnte nun eine kluge, uralte Spinne. Sie erzählte einmal in einer abendlichen Dämmerstunde den Pflanzen und Tieren, die gleich ihr die Ruine bewohnten, dass hier einstens der Herrgott gewohnt hatte und dass diese armselige Nische seine Wohnstätte war, weil er bei den Menschen weilen wollte; wusste er doch in seiner Güte, dass die Menschen ein Nichts sind ohne ihn. Wie aber die Kapelle samt der Burg mehr und mehr verkam, da zog mit den letzten Bewohnern auch der göttliche Heiland aus.

Die Erzählerin schwieg; die übrigen hingen ihren Gedanken nach. Da kam der Mond und hing seine Silbergespinste zwischen den Bäumen und der Ruine auf, und sachte schlief alles Leben im Forst. Nur ein kleines Wesen schlief nicht; es war ein bescheidenes, gelbes Sternblümchen, ein Steinbrechlein, das in einer Mauerspalte sein armes Dasein fristete. Es musste immerfort an die Erzählung der Spinne denken und es weinte über den bescheidenen Gottessohn, der in dieser dürftigen Steinnische gewohnt hatte. Dann dachte das Blümlein nach, wie man diese Nische ein wenig schmücken könnte zum Gedächtnis an Gottes heilige Gegenwart. Und wie es so nachdachte im silbernen Mondschein, da fiel ihm just ein guter Gedanke ein. Kaum konnte das Blümchen das erste Frührot erwarten, als es schon nach der klugen Spinne rief und der ihren Plan mitteilte. Die Spinne war sehr erfreut, sicherte ihre Hilfe zu und nannte das bescheidene Blümchen klug und brav.

Das Eichhörnchen staunte nicht wenig, als es in aller Frühe schon Besuch bekam von der Spinne; noch mehr aber staunte es, als es des Blümchens Plan vernahm. Aber gerne war auch das muntere Tierchen bereit. Wie wunderten sich die anderen Bewohner der Ruine, als das lustige Eichhörnchen kam, mit seinem buschigen Schwanz den alten verwitterten Altarstein säuberte und gar die kluge Spinne vor das alte Nischlein ein feines Vorhanggespinst webte.

Noch war aber nicht alles getan. Das Steinbrechlein war unterdessen nicht müssig gewesen; es hatte alle seine Schwesterlein in der ganzen Ruine zusammengerufen, und vereint kletterten sie mit ihren feinen Wurzelfüßchen am Altarstein empor und umgaben die Nische, die verlassene Gotteswohnung, in dichtem Kranz. Wie freuten sich alle über diesen lieblichen Schmuck und gar schön wurde es erst, als der Abendtau glitzernde Perlen in das Gewebe der Spinne hing.

Im ersten schein der Morgenröte ging Unsere Liebe Frau durch den Forst; und wo immer sie wusste, dass ihr göttlicher Sohn dort einmal gewohnt hatte, da konnte sie nicht vorübergehen, da musste sie Einkehr halten. So zog es denn die himmlische Frau auch zur verfallenen Burgkapelle. O wie freute sich ihr gottliebendes Mutterherz, als sie sah, wie lieblich geschmückt ihres Sohnes längst verlassene Wohnung war!

Die Gottesmutter, der nichts verborgen bleiben konnte, sah die rührende Liebestat des bescheidenen Blümchens und segnete es. Und dieser Segen der Lieben Frau blieb haften auf dem gelbgesternten Steinbrechlein und wirkte fort; es wurde so recht das Blümchen des sakramentalen Gottes. Alljährlich am Bekennerfest, wenn der Herr durch die Straßen zieht, da ist es das bescheidene Blümchen, das die brennenden Kerzen umkränzt.

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22. Die Silberdistel

 

Der sternflimmernde Nachthimmel wölbte sich über die Wüste, unheimlich erklangen die Stimmen der wilden Tiere, die nach Beute spähend umherschlichen. Das Herz der Gottesmutter begann bange zu schlagen, vor ihr die Gefahren der Wüste, hinter ihr die grausamen Verfolger. Die rinnenden Tränen der Mutter erweckten das heilige Kind, dies hob das Köpfchen ein wenig und sah um sich. Da, was war es? Die Eselin, die Mutter und Kind trug, begann heftig zu zittern und Josef gewahrte voll Schrecken, dass es von allen Seiten näher und näher schlich, grüne Augen flammten im Dunkel der Nacht auf und alles Raubzeug der Wüste kam auf die Flüchtlinge zu. Die heiligen Eltern verhüllten bange das Haupt. Was mag nun kommen? Wird uns der Herr schützen? Als Maria fast den heißen Atem der wilden Tiere fühlte, da nahm sie ihr Kind, drückte es fest gegen das bange klopfende Herz: „O Kind, mein Gott, hilf du, rette uns aus dem Verderben!“ Da ging von dem Kind eine strahlende Helle aus, und in diesem Licht sahen Maria und Josef die Raubtiere der Wüste vor dem Gotteskind wie anbetend liegen. Die Gottesmutter sah voll heißen, wortlosen Dankes in die strahlenden Augen des Kindes, in deren Tiefe die Unbesiegbarkeit der Gottheit ruhte. Josef sah rückwärts und hörte den Hufschlag der Verfolger; auch die wilden Tiere sahen die Not ihres Schöpfers. Jäh richteten sie sich in die Höhe, ein starker Löwe rief: „Herrin, sprich du, sollen wir das Gotteskind und euch retten, so wollen wir die Verfolger töten.“ „Nimmermehr,“ rief Maria, „der Herr, der uns bis hierher geführt hat, wird uns auch weiter führen und retten ohne Blutvergießen, denn wisset, Blut fordert wieder Blut.“ Demütig schlichen die Raubtiere zur Seite und zerstreuten sich nach verschiedenen Richtungen. Die Kamele der Verfolger witterten den Geruch der Raubtiere und waren weder durch Schläge, noch durch Schmeichelei weiter zu bringen, so dass den Herodesknechten nichts anderes übrig blieb, als in der Wüste Rast zu halten, bis der Morgen dämmerte.

Im erwachenden Tag nun sahen die Flüchtlinge, dass die Fußspuren Josefs und des Reittieres den Verfolgern ihren Weg verriet. Was nun tun? Im grellen Licht des Tages werden diese Spuren die Verfolger rasch auf ihre Fährte setzen und den schnellen Kamelen wird es ein Leichtes sein, das flüchtige Paar mit dem Gotteskind einzuholen. Da hob das Jesulein auf dem Arm der Mutter segnend das Händchen über die verräterischen Spuren, und siehe, die Not war behoben, denn überall wo eine Vertiefung im Wüstensand sich zeigte, wuchs eine silberglänzende Blume ohne Stängel. Unverrichteter Dinge mussten die Herodesknechte zurückreiten, denn keine Spur verriet mehr den Weg der Flüchtigen. Der Segen des Gotteskindes aber schuf die anmutige Silberdistel.

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23. Die Legende vom Windröschen

 

Im Gärtchen, unter einer schlanken Palme, saß Maria, des Josefs jungfräuliche Frau, und spann; das Gotteskind spielte drüben am Hang. Der Wind, der erst ganz leise säuselte, erhob sich und begann kräftig zu blasen. Das Jesulein kam zur Mutter mit flatternden Locken und sprach: „Mutter, der Hang da drüben, hat einen Kummer, eben hat er ihn mir anvertraut und mich gebeten, ihm zu helfen.“

Maria lächelte und meinte: „Mein Liebling, du irrst, es ist der Wind, der sein wildes Lied singt; der Hang hat doch keine Stimme und was sollte er auch für einen Kummer haben?“ „Mutter,“ antwortete das Gotteskind, „wie sollte ich mich irren? Siehe, jedem Geschöpf ist eine Stimme gegeben, um damit seinen Schöpfer zu preisen; auch des Windes wild klingendes Lied ist ein einziger Lobgesang auf Gottes Allmacht. Was nun der Hang von mir möchte, will ich dir sagen; er ist gar arm, kein Blümlein schmückt seine grüne Fläche, weil in dem heftigen Wind keines wachsen will; da bat er mich denn auch um ein paar bescheidene Blümchen, und wahrlich sie sollen ihm werden.“

„Mutter,“ bat das Jesulein, „gib mir einige Läppchen Zeug.“ Maria voll Staunen über ihr wundersames Kind gab ein Stückchen eines feinen schleierartigen Gespinstes. Das Gotteskindlein nahm das feine, weiße Zeug in beide Händchen und hob es gen Himmel. In dem Blick dieser leuchtend blauen Kinderaugen lag dabei heiligste Inbrunst, ein still seliges Lächeln glitt über das liebliche Antlitz. Zufrieden suchte das Kind ein Winkelchen auf und begann sein Werk.

Die heiligste Jungfrau sah, wie das Jesulein kleine Läppchen abzuzupfen begann; und als es das ganze Stück Zeug zerpflückt hatte, legte es alles auf die Hände und hielt sie gegen den Wind; der nahm gehorsam die zarte Beute und entführte sie nach dem Hang. Das Kind lief zur Mutter, „komm,“ bat es, „lass uns zum Hang gehen und sehen, wie ich ihn nach des Vaters Willen geschmückt habe.“ Und die Gottesmutter folgte voll Ehrfurcht dem Kind mit der Schöpferkraft und sah den ganzen Hang überblüht von reizenden, hauchzarten Blumenkindern, die im Wind wehten ohne Schaden zu nehmen. Maria kniete in all der blühenden Wonne nieder, zog das Gotteskind an sich und küsste es in heiliger Freude. Da sagte das Kind: „Mutter, gib den Blümlein einen Namen.“

Die heiligste Jungfrau sah gedankenvoll auf das zarte Blümchen, an dem die Fingerlein des Jesuskindes rosige Spuren hinterließen; da gedachte die heilige Mutter der Mitwirkung des Windes bei der Schöpfung des Blümleins und sagte: „Mein Liebling, wir wollen das zarte Geschöpfchen Windröschen nennen.“ Das Gotteskind war zufrieden und nun trägt das liebliche Frühlingskind, die Anemone, den Namen, den die Gottesmutter ihm gab. Zum Gedächtnis an die anmutige Geschichte seiner Schöpfung, schmückt heute noch das Windröschen jeden schmucklosen Hang zur Frühlingszeit.

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24. Immortellen

 

Mit viel Liebe und Freude umhegte die künftige Gottesmutter, das Kind Maria, ihr Gärtchen, denn die Blumen waren die Kleinodien ihres Lebens. Wieder war Herbst geworden und Mariens Gärtchen prangte in schönster, bunter Pracht. Das Kind war so glücklich in seinem kleinen Reich, täglich schnitt es einen frischen Strauß und stellte ihn an Mutter Annas Fenster. Einige Wochen währte diese Freude ungetrübt, dann aber kam ganz sachte über Nacht der Frost und verbrannte mit seinem eisigen Atem all die blühende Schönheit.

Am anderen Morgen, als das Kind Maria in den Garten kam und all den Schaden sah, weinte es bitterlich über all ihre toten Lieblinge. „Warum,“ schluchzte Maria, „tötet der kalte Frost all meine Blumenkinder und nichts bleibt für die grauen Wintertage. O, wollte mir doch Gott ein einziges Blümchen schenken, das die Schrecken des Frostes überstehen könnte.“ Reichlich flossen die Tränen des Kindes; das Erdreich trank sie durstig ein. Mutter Anna tröstete Maria und sagte ihr auch, dass dies schon seit dem Urvater so sei, dass es zur kalten Jahreszeit keine Blumen gäbe und man dürfte vom lieben Gott nichts so unbilliges verlangen, denn er, der Allweise, wird wissen, warum er es so gehalten habe.

Das Kind Maria schwieg, wohl perlten noch einige Tränen hernieder, aber es fand, dass die Mutter recht habe und da wollte es sich auch in das Unabänderliche fügen; denn Gottes Anordnung ging ihr schon vom zartesten Kindesalter über alles.

Der Winter war vorüber, der Lenz schwang sein holdes Zepter und allüberall begann es zu blühen und zu duften. Das Kind Maria war überglücklich und betreute unermüdlich all ihre Blumenkinder. Im Sommer aber begann es in dieser Ecke des Gartens, wo Mariens Tränen im Herbst bei den toten Blumenkindern so reichlich flossen, zu keimen, zu wachsen und zu werden und siehe, ein Busch mit zahlreichen, lieblichen weißen Blüten stand da zum hellen Ergötzen des heiligen Kindes.

Wieder ist es Herbst geworden, wieder fielen Mariens Blumen dem Frost zum Opfer, aber die kleinen weißen Blümchen standen auch nach dem ersten, schweren Nachtfrost ungebeugt, denn die weißen Blüten waren strohartig und verdarben nicht. Wie glücklich war das Kind Maria, weil der liebe Gott ihren Wunsch erhörte und eine Blume schuf, die wohl den Winter überdauern konnte. Maria gab dem Blümchen den Namen „Unsterbliche“. Mutter Anna aber, die wohl wusste, dass Gott die Blümchen dort wachsen ließ, wohin Mariens Tränen gefallen sind, nannte sie „Tränen Mariens“. Unter diesem Namen wachsen diese lieblichen Blumen in manchen weltfernen Bauerngärtchen, die große Welt aber nennt sie wie Maria, Immortelle, die Unsterbliche.

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