2. Mai - Das Häuschen

 

In der Lauretanischen Litanei wird Maria, die Gottesmutter, die "Arche des Bundes" genannt. Und mit vollem Recht, denn wie die Bundeslade der Israeliten einen gar köstlichen Schatz in sich barg, das wunderbare Manna, so war auch Maria die Trägerin eines noch köstlicheren Schatzes, die Trägerin dessen, der genannt wird Christus. Die Bundeslade der Israeliten galt als nationales Palladium des Volkes. Mit welcher Sorgfalt wurde sie hergestellt aus Zedernholz und überzogen mit purem Gold. Sie war das Zeichen, das das ganze Volk vereinte. Wohin immer das Volk zog, die Bundeslade ging mit ihnen. Vierzig Jahre spielten sich in der Wüste die Geschicke des Volkes Gottes um die Bundeslade herum ab. Zur Bundeslade drangen die Rufe der Empörung, die ausging von der Rotte Korah, die Bundeslade sah auch die Strafe der Empörer. Im heiligen Zelt, wo die Bundeslade ruhte, da lag Mose auf den Knien und holte sich Kraft, dies irdisch gesinnte Volk recht zu führen. Von hier kam ihm die Kraft, große Zeichen und Wunder zu tun, um das Volk so im Glauben an den einen wahren Gott zu bestärken. Mit der Bundeslade überschritt das Volk Gottes den Jordanfluss und setzte seinen Fuß in das Gelobte Land. Mit der Bundeslade zogen sie in feierlicher Prozession um die Mauern Jerichos und die Mauern fielen zusammen. Wie waren die Geschicke des Volkes mit der Bundeslade verbunden! So lange das Volk an den Herrn glaubte und ihm diente, der sich in einer lichten Wolke über die Bundeslade herabließ, ging es den Israeliten auch gut, als aber das Volk sich fremden Göttern zuwendet, kommt schon das Unheil über das Volk. Die Feinde, in deren Hände das Heiligtum des Volkes fällt, obsiegen über das Volk Gottes und verbreiten Elend und Not unter ihm. 

 

Der Bundeslade einen würdigen Aufenthaltsort zu bereiten, baut Salomo den herrlichen Gottesbau aus Gold und Marmor und Zedernholz. Und als der Tempel in Jerusalem in Schutt und Asche zerfiel und die Bundeslade verschwand - man meint, der Prophet Jeremias habe sie verborgen - da erfüllt tiefe Trauer das Herz des Volkes. In der Gefangenschaft zu Babylon gedenken sie nicht so sehr ihres eigenen Elends, als vielmehr des Untergangs ihres Heiligtums.

 

An den Wassern Babylons

Saßen wir und weinten,

Als wir Sions dachten.

 

In des Landes Mitte

An die Trauerweiden

Hingen wir die Harfen.

 

Die Bundeslade des Alten Bundes verschwand. Es vergingen Jahre und Jahrhunderte. Da entstand im Heiligen Land eine neue Arche des Bundes und nicht ein Volk nur jauchzt ihr in Liebe entgegen! "Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter!" Maria, aus der geboren wurde Jesus, der genannt wird Christus. Doch, liebe Marienverehrer, heute möchte ich eure Aufmerksamkeit auf eine andere Bundeslade lenken, die auch das Palladium des ganzen christlichen Volkes geworden ist: es ist ein kleines Häuschen in unseren Kirchen. Wie die Bundeslade des Alten Bundes ist es aus Holz geschnitzt, wie die Bundeslade des Alten Bundes trägt es die Figuren der Cherubim, die ihre Flügel über diese Lade breiten. Und wie die alttestamentarische Bundeslade birgt sie in ihrem Innern ein goldenes Gefäß mit Manna. Es ist das Manna des neuen Testamentes, von dem die Kirche täglich singt: panem de coelo praestitisti eis omne delectamentum in se habentem - Brot vom Himmel hast du ihnen gegeben, das alle Süßigkeit in sich enthält.

 

Dieses Manna ist Jesus Christus selbst, gegenwärtig im heiligsten Sakrament des Altares. Das ist der köstlichste Schatz unserer Kirche, das ist das Palladium, das Heiligtum des christlichen Volkes, das ist der Mittelpunkt unseres ganzen religiösen Lebens.

 

Diesem köstlichsten Schatz eine würdige Wohnung zu bereiten, waren zu allen christlichen Jahrhunderten die besten Künstler Zeit ihres Lebens bestrebt. Die kleine weiße Hostie erklärt es uns, warum die verschiedenen Wunderbauten entstehen konnten: ein Kölner Dom, eine Stephanskirche, eine Peterskirche, ein Sakramentshäuschen in der St. Lorenzokirche zu Nürnberg. Vor dieser unscheinbaren Hostie liegen täglich hunderttausende, ja Millionen Menschen auf den Knien und holen sich hier, wie einst Mose vor der Bundeslade, Erleuchtung, Mut, Kraft, Stärke in Leid und Versuchung. Diese weiße heilige Hostie ist unauflöslich verknüpft mit den Schicksalen unseres Lebens. Was war das für ein glücklicher Tag, als du zum ersten Mal diese kleine heilige Hostie empfingst. Du denkst noch daran, wenn dein Haar sich schon bleicht und deine Gestalt hinfällig wird. An diesen Tag dachte mit Wehmut der große Napoleon und nannte ihn seinen glücklichsten Tag, er, der Sieger in so vielen Schlachten, er, dem der halbe Erdkreis zu Füßen lag. Vor diesem Häuschen, das die weiße Hostie birgt, bist du einst gekniet an jenem schönen Tag, da deine Hochzeitsglocken läuteten, dieser Hostie hat der Priester des Herrn dein Kind entgegengehalten, als du in deinem jungen Mutterglück des innigen Dankes voll dem Gotteshaus zueiltest. Diese weiße Hostie hast du begleitet Jahr für Jahr an dem herrlichen Sonntag, als sie das stille Häuschen verließ und hinaustrat auf die Straßen der Städte und Dörfer, als die Glocken läuteten und Blumen den Weg des heiligen Fronleichnam bezeichneten und die goldene Monstranz funkelte im Licht der Sonne. Zu dieser Hostie führt dich dein Weg immer wieder her. Die Glocken laden dich ein: komm, komm, ein Wunder vollzieht sich vor deinen Augen, ein großes, ein unfassbares Wunder der Liebe: Gott selber steigt vom Himmel und nimmt Brotsgestalt an und wird deine Speise für das Leben der Seele. Ja, eine einzige heilige Messe ist ein größeres Wunder, als all die Wunder, welche Mose in der Wüste tat angesichts der Bundeslade.

 

Und wieder verlässt diese kleine weiße Hostie ihr stilles Häuschen: dir ist so weh zumute, eine weite Reise steht dir bevor, dunkel ist der Weg, ungewiss das Ziel. Ein Abschied ist es von allem, woran dein Herz gehangen. Ach wie bang, wie weh ist dir ums Herz. Da verlässt diese kleine weiße Hostie ihr stilles Häuschen und kommt zu dir. "Ich will deine Wegzehrung sein!" ruft der Heiland aus dieser Hostie, "damit du dich nicht zu fürchten brauchst vor der dunklen Reise". O wie wirst du da erquickt und getröstet. Jetzt kommt dir der Weg nicht mehr so schwer vor, der Heiland geht ja mit dir.

 

Versteht ihr es, liebe Marienverehrer, dass das kleine Häuschen in unseren Kirchen mit dem weißen Manna das wahre Palladium, das köstlichste Heiligtum des Christen ist? 

 

Wir wollen tagtäglich in diesem Monat zu diesem Häuschen wallfahren. Wie idyllisch, wie schön ist dieses Häuschen: es ist von Rosen umrankt, von weißen und roten und goldgelben Rosen. Die weißen Rosen des freudenreichen, die roten des schmerzhaften, die goldenen Rosen des glorreichen Rosenkranzes werden wir in Beziehung bringen zu dem hochheiligen Sakrament, das im Tabernakel als das köstlichste Manna des Neuen Bundes ruht. Und während wir auf die lebendige Bundeslade schauen, auf die heilige Jungfrau, in deren Schoß das göttliche Kindlein ruhte, während wir uns freuen ihrer Freuden und mit ihr weinen in ihrem Schmerz und sie lobpreisen ob ihrer Herrlichkeit im Himmel, werden wir gleichzeitig hinschauen auf die gebenedeite Frucht ihres Leibes, auf Jesus Christus, geheimnisvoll gegenwärtig in der heiligen Eucharistie und werden unsern Glauben stärken an dies große Geheimnis unseres Glaubens und all unsere Hoffnung auf ihn werfen, der versprochen hat, dass er alle erquicken wird, die mühselig sind und beladen, und wir werden ihm das Lied unserer Liebe singen, für so viel Liebe, deren nur Gott fähig ist.

 

Und von dieser heiligen weißen Hostie wird Segen und Freude und Friede sich ergießen in unsere friedlosen Herzen.

Amen.