Beitrag zum Reformationsgedenken

 

Inhalt:

 

1. Die gottselige Caritas Pirckheimer, Klarissen-Äbtissin, + 19.8.1532 – Gedenktag: 19. August

 

2. Der Irre von Buchental - Erzählung aus der Zeit des Bauernkrieges von Johannes Buse

 

3. Zeitgenössische Aufzeichnungen des Weltpriesters Heinrich von Pflummern

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1.

 

Die gottselige Caritas Pirckheimer, Klarissen-Äbtissin,

+ 19.8.1532 – Gedenktag: 19. August

 

Unsere heilige Kirche gibt ihren Kindern, die nicht durch das blutige Martyrium, wohl aber durch einen gottgefälligen, gesetzestreuen Wandel, durch Wort und Tat, Zeugnis für die Wahrheit und Heiligkeit der Kirche abgelegt haben den Ehrentitel „Bekenner“. In der Allerheiligenlitanei ruft sie alle „Bekenner“, deren Namen „im Buch des Lebens“ aufgezeichnet sind, im Verzeichnis der Kirche aber nicht genannt werden können, in mütterlich weiter Liebe um ihre Fürbitte an. Nun will ja die liebe Caritas Pirckheimer durchaus nicht darauf Anspruch erheben, unter die kirchlich anerkannten Heiligen gezählt zu werden. Aber den Titel einer ausgezeichneten, mutigen und beharrlichen Bekennerin und Verteidigerin ihres teuren katholischen Glaubens hat sie sich in wahrhaft heldenmütiger Weise erworben und seit 1962 ist man auch mit ihrer Seligsprechung befasst. In einer der traurigsten Perioden der Kirchengeschichte Deutschlands steht diese edle, hochgebildete und tieffromme Frau als hellleuchtender Stern katholischer Glaubenstreue da, gerühmt durch alle Zeiten ob des unvergleichlichen Starkmutes, der Geduld und der Gelehrsamkeit, womit sie sich und ihr Kloster gegen alle gewaltsamen Versuche, es vom Glauben abspenstig zu machen, wehrte. Die Lebensgeschichte dieser treukatholischen, exemplarischen Ordensfrau, inmitten des traurigsten Abfalles, lehrt auch überzeugend, wie einerseits trotz aller Sittenverderbnis, die damals in die Kirche eingedrungen war, lebendiger Glaube, christlich frommes Leben und echte Ordenszucht auch damals noch in Klöstern ihre Heimstätte hatten, wie andererseits weltliches Machtgebot mit Unduldsamkeit und Gewalt, aus ganz unedlen Beweggründen, das alte Kirchenwesen abgeschafft und das neue Evangelium eingeführt hat. Welch schmählicher Missbrauch mit dem „göttlichen Wort“ und mit der „evangelischen Freiheit“ getrieben wurde, wie alle Gewissensfreiheit zerstört, alle althergebrachten Grundsätze des Rechtes, der Ehre und Scham beiseitegesetzt wurden, das ist aus keiner der Nachwelt erhaltenen Quellenschrift jener Zeit so deutlich zu erkennen, in keiner so ergreifend dargestellt worden, als in den Denkwürdigkeiten, Tagebüchern und Briefen der Caritas Pirckheimer, der Äbtissin von St. Klara in Nürnberg.

 

Die Pirckheimer waren ein altes, angesehenes Patriziergeschlecht der freien Reichsstadt Nürnberg, der Fürstin der oberdeutschen Städte, in der zur katholischen Zeit religiöses Leben, Kunst und Wissenschaft zu hoher Blüte gelangt waren. Johann Pirckheimer, der Vater unserer Caritas, hatte sich auf der Universität zu Padua in Oberitalien den juristischen Doktorhut erworben. Er wirkte als Rat des Bischofs von Eichstätt, dann des Herzogs Albrecht von Bayern und des Erzherzogs Sigmund von Österreich, versah auch Gesandtschaftsposten an verschiedenen Höfen. Später zog er sich in seine Vaterstadt Nürnberg zurück. Hier bildete er und später sein weithin bekannter Sohn Willibald einen Brennpunkt für wissenschaftliches und künstlerisches Streben. Dem neubeginnenden Humanismus, der Vorliebe für griechisch-römische Bildung, lebhaft zugetan, haben die Pirckheimer den alten christlichen Glauben und seine Grundsätze in schönstem Einklang mit dem Neuen zu wahren verstanden. In diesem Kreis wuchs Caritas auf.

 

Gleich Willibald zu Eichstätt 1467 geboren, kam Caritas im Alter von zwölf Jahren zur Ausbildung in das Klarissenkloster zu Nürnberg. Hier nahmen nach einem alten Herkommen nur Nürnberger Bürgerstöchter, zum Teil aus den vornehmsten Familien, den Schleier, um nach der Regel des heiligen Franziskus ein strenges Ordensleben zu führen. Auch Caritas wählte diesen Stand, um sich in Übung seiner Vorschriften und Heilsmittel leichter zu heiligen. Sie hat es ernst genommen mit der Heiligung. Ihre Frömmigkeit war rein und ungeheuchelt. Wie der Nürnberger Rechtsgelehrte Christoph Scheurl bezeugt, bewunderten „alle durch Geist und Macht Hervorragende ihre Geschicklichkeit, Gelehrsamkeit und erhabene Sittenreinheit“. Der bekannte Humanist und Dichter Konrad Celtes, obgleich zügellosen, neuheidnisch-humanistischen Geistes, feiert Caritas als „seltene Zier in deutschen Gauen“, als „Jungfrau, ähnlich den Römertöchtern, wie einstmals auch Spanien sie und Frankreich barg in den Klöstern“. Die freimütige Antwort auf das Lobgedicht des über Deutschland hinaus berühmten Mannes zeigt uns treffend die „demütige“ Ordensfrau, die über alle irdische Weisheit und Ehre die Sorge für das Heil der Seele und eine gläubig-fromme Gesinnung obenan stellt. Sie schrieb ihm: „Als eine Liebhaberin Eures Seelenheils . . . möchte ich Euch von ganzem Herzen gar fleißig bitten, die weltliche Weisheit zwar nicht aufzugeben, wohl aber sie höher auszuprägen, d.h. von den Schriften der Heiden zu den heiligen Büchern, von dem Irdischen zum Himmlischen, von dem Geschöpf zum Schöpfer Euch zu erheben. Wiewohl keine Wissenschaft, noch irgendeine Kenntnis der Erfahrung, die von Gott geordnet, zu verwerfen ist, so ist doch die mystische Theologie (Wissenschaft der Gottgeeintheit) und ein gutes tugendhaftes Leben allzeit höher zu achten. Denn die menschliche Vernunft ist schwach und kann sich täuschen. Der wahre Glaube aber und ein gutes Gewissen kann niemals getäuscht werden.“ Auf die Heilige Schrift übergehend, fährt Caritas fort: „Da finden wir die kostbarsten Perlen, denn auf jenem Acker des Herrn zieht die Gotteswissenschaft aus der Schale den Kern, aus dem Buchstaben den Geist, aus dem Felsen das Öl, aus den Dornen die Blume. Zu dieser ernsten Betrachtung des göttlichen Gesetzes und der Heiligen Schrift lade ich Eure Würdigkeit mit vertrauensvoller Herzlichkeit ein als meinen sonderlich teuren Freund und Meister, den ich gerne groß geachtet wünschte vor den Augen des Herrn und bitte Euch, solches nicht auf den morgigen Tag zu verschieben. Jetzt, o Teuerster, arbeitet, so viel Ihr arbeiten könnt, denn morgen ist ein ungewisser Tag und Ihr wisst nicht, ob Ihr ein Morgen habt . . . In dieser freundschaftlichen Gesinnung möchte ich Euch auch zureden, dass Ihr doch ablassen möchtet von der Verherrlichung der unziemlichen Sagen von Jupiter, Venus, Diana und anderen heidnischen Geschöpfen. O, macht doch die Heiligen Gottes Euch zu Freunden, indem Ihr sie verehrt und ihre Handlungen nachahmt, damit, wenn Ihr das Irdische verlassen müsst, sie Euch in die ewigen Wohnungen nehmen. Möge es geschehen, möge es geschehen!“ . . . Zartfühlig und bescheiden bittet schließlich die Schreiberin um Nachsicht, wenn sie etwa „die Ehrfurcht (gegen den Dichter) einigermaßen verletzt“ hätte. Die Schuld müsste auf den zurückfallen, der (Celtes selbst) ihr, „dem unerfahrenen und unkundigen Mädchen, bei der Strafe des Ungehorsams geboten“ hätte, zu schreiben.

 

Welche Klugheit, welch apostolischer Geist, welch lodernder Eifer und ausbrechende Sorge um das Heil der unsterblichen Seele des ihr befreundeten Mannes haben da die Feder geführt! So kann nur jemand schreiben, der selbst gläubig-fromm, von Gott zutiefst ergriffen ist, dass er auch andere von dem Glück, das Glaube und Unschuld über die Seele gießen, beseligt sehen möchte. Schon dass die Pirckheimerin zumal in jener Zeit rauschvoller Begeisterung für die schönen Künste, nicht der Eitelkeit über die Ehre erlag, von dem ersten „gekrönten Dichter“ Deutschland besungen zu werden, verrät die große Frau, die vollkommene Ordensfrau.

 

Ob ihrer hervorragenden Geistesbildung wurde Caritas frühzeitig zur Lehrerin aufgestellt. Noch mehr mag das vorbildliche Ordens- und Tugendleben die Frauen von St. Klara veranlasst haben, bei der Äbtissinwahl am 20. Dezember 1503 der edlen Caritas einmütig ihr Vertrauen zu bekunden. Mit innigster Liebe hingen ihr die Schwestern an. Schönste Ordenszucht und eifriges Tugendstreben herrschten unter ihrer weisen und gütigen Führung im Kloster. Gebet und Betrachtung, Studium und Jugendunterricht, Teppichwirkerei und andere Arbeiten beschäftigten die Nonnen. In der Geschicklichkeit der Hände, wie des Geistes scheinen die Nürnberger Klarissinnen den besten Ruf besessen zu haben. Als 1520 Kaiser Karl V. gekrönt werden sollte, musste der alte Krönungsornat vorher einer Ausbesserung unterzogen werden. Der ehrenvolle Auftrag hierzu wurde den Nonnen von St. Klara zuteil. Die Heilige Schrift, das Neue wie das Alte Testament, wurde deutsch und lateinisch sowohl von den einzelnen Frauen, als auch gemeinschaftlich von ihnen gelesen. Auch in den sonstigen Schriften, die das frische Geistesleben brachte, sahen sie sich fleißig um. Die weltliche Literatur war der hochstrebenden Äbtissin wohl bekannt. Sie stand mit den hervorragendsten Männern und Frauen ihrer Zeit in lateinischem und deutschem Briefwechsel, war daher mit den religiösen und geistigen Strömungen ihrer Zeit völlig vertraut. Wie sie als Lieblingsschriftsteller den heiligen Hieronymus las, so studierte Caritas im Verein mit ihrer gleichgearteten Schwester Klara Pirckheimer, einer „kindlich heiteren und gemütvollen Klosterfrau“, auch die Schriften der Neuerer, die mit ihren Angriffen auf das Glaubensleben und die sittliche Ordnung in der Kirche das altererbte christliche Heilsgut des Volkes zu zerstören drohten.

 

Die Zeit der religiösen Einheit Deutschlands war vorbei. Ein neues Evangelium riss die eine Hälfte unseres Vaterlandes vom alten katholischen Glauben los. Überall Zank und Streit! Gewaltsame Reformiererei in Kirchensachen! Mit der klösterlichen Ruhe und dem friedlichen Leben in St. Klara zu Nürnberg, wie in anderen Klöstern war es nun auch vorbei! Kampf und Untergang brach herein. Bei Luthers erstem Auftreten war es der Äbtissin Caritas unbegreiflich, dass nicht alle Gelehrten sich einmütig zur Verteidigung der Kirche erhoben. Des Hieronymus Emser Schriften gegen Luther ließ sie im Konvent vorlesen und richtete (1522) hocherfreut ein Dankschreiben an Emser mit der Aufforderung so fortzufahren. Es gebe im geistlichen und weltlichen Stand viele Katholiken, die des Trostes und der Stärkung bedürften. Andererseits fresse das Übel täglich um sich, und es habe auch in Nürnberg „allermeist der Regenten halber“ seine Verheerungen angerichtet. Ja, auch in der alten fränkischen Reichsstadt hatte es der Magistrat rasch erkannt, dass die neue Lehre ihm mit dem geistlichen Regiment auch die Aussicht auf das viele Kirchengut in die Hand gäbe. Im Jahr 1524 begannen die Eingriffe des Stadtrates gegen alle Klöster. Von den Kanzeln wurde der Ordensstand als „verdammlicher Stand“ geschmäht; es hieß, die Nonnen „wären alle des Teufels“. Die erste Maßregel gegen die Klarissen, die der Gegenpartei schon ob ihrer offenen Zustimmungserklärung zu der Emserschen Verteidigung des alten Glaubens verhasst waren, bestand in dem Antrag des Rates, 1524, dass ihnen die geistliche Leitung durch die Franziskaner (Barfüßer), die mit Entschiedenheit für die altkirchliche Lehre eintraten, entzogen würde. In einer herrlichen Bittschrift an den Rat zeigt sich die Äbtissin als geschickten, mutigen Anwalt ihres Konventes und der Rechtgläubigkeit. Eindringlichst stellt sie dem Rat vor, wie sehr sie sich stets gegenüber der Obrigkeit „in allen ziemlichen und leidlichen Dingen“ vorwurfsfrei verhalten und wie man ihrer ganzen Lebensweise keinen Tadel beimessen könne. Man möchte sie darum in der Freiheit ihrer religiösen Überzeugung und in der Freiheit ihrer klösterlichen Ordnung nicht vergewaltigen. Es sei ein eingewurzelter Argwohn, dass ihnen ihre Väter (die Franziskaner) das heilige Evangelium und andere Bücher zu lesen verbieten würden. Die Frauen hätten „das Alte und Neue Testament deutsch und lateinisch in täglichen Gebrauch und Übung“. Nur die neuen „Schmachbüchlein, die ihr Gewissen beschwerten und ihres Erachtens nit allweg der christlichen Einfältigkeit gemäß“ wären, würden sie nicht lesen. „Hoffen ja,“ so schrieb sie bescheiden, „Gott werde uns seinen heiligen und wahren Geist mit unserer herzlichen Bitt nit versagen noch verhalten, damit wir das Werk Gottes recht und nach seinem wahren Verstand mögen vernehmen, nit allein dem Buchstaben nach, sondern dem Geist nach.“

 

Wie schön verteidigt sich Caritas gegen den bekannten Vorwurf der „Werkheiligkeit“. „Wiewohl uns von etlichen will beigelegt werden, als verlassen wir uns auf unsere eigenen Werke, hoffen allein durch sie selig zu werden, so ist uns doch von der Gnade Gottes unverborgen, es sage jedermann was er wolle, dass durch die Werk allein kein Mensch, wie der heilige Paulus sagt, gerechtfertigt werden kann, sondern durch den Glauben unseres Herrn Jesu Christi. Zudem, dass uns der Herr Jesus Christus selbst lehrt: wenn wir die Werk alle getan haben, dass wir uns dennoch unnütze Diener achten sollen. Wir wissen aber hinwiederum auch, dass ein rechter wahrer Glaube nit ohne gutes Werk kann sein als so wenig als ein guter Baum ohne gute Frücht; dass auch Gott einem jeglichen Menschen nach seinem Verdienst lohnen wird, und so wir vor dem Gerichte Christi erscheinen werden, dass männiglich nach seinen Werken, sie sind gut oder bös, empfahen wird.“ „Wir wissen auch, dass wir uns allein die eigene Werk nit sollen zumessen, geschieht aber etwas durch uns, dass solches nit unser, sondern Gottes Werk ist. Darum es uns ohne Grund beigelegt wird, dass wir uns unser Werk rühmen, sondern unser Ruhm ist allein in dem gekreuzigten und geschmähten Christo, der uns heißt sein Kreuz auf uns zu nehmen und ihm nachfolgen. Deswegen erkennen wir uns schuldig, werden auch das geheißen, den alten Adam unterzudrücken, den Leib dem Geist durch Kasteiung unterwürfig zu machen, dass wir gleich im Kloster mehr Statt und Ursach haben, dann auswendig (= denn außerhalb). Sämtlich hätten sie sich denn entschlossen, nicht aus dem Kloster zu treten, sondern zu bleiben in der Berufung, zu der Gott sie erfordert habe; nicht um guten Lebens willen seien sie im Kloster, denn Gott und die Welt wisse, dass sie „arme elende Leute“ seinen; der Rat selbst wisse aus ihrer jährlichen Rechnung, dass Not und Armut bei ihnen vorhanden und sie kaum zu leben hätten. Sie seien auch keine Verächterinnen des ehelichen Standes, aber für sich wollten sie Gott in der Jungfrauschaft dienen, und das könne ihnen doch „wahrlich von niemanden Verständigen verwiesen werden“.“

 

Der Erfolg der Bittschrift äußerte sich lediglich in einem kurzen Aufschub der Beichtväterangelegenheit. Am Josephstag 1525 erzwang sich eine Ratsdeputation Einlass in die Klausur und ließ den Ordensfrauen nur die Wahl unter mehreren neugläubigen Beichtvätern. Caritas lehnte entschieden ab, zwang dagegen die Ratsherren durch die Frage, welches Ärgernis ihrerseits den Rat zu einem solchen Vorgehen veranlasse, zu dem Eingeständnis: „Von Missbrauch oder Ärgernis habe der Rat kein Wissen, vielmehr von Zucht, Ehrbarkeit und gutem Leumund.“ Seitdem wurde im Kloster kein Sakrament mehr gespendet. Eine siebzigjährige Schwester musste ohne die heilige Wegzehrung hinscheiden. In einer weiteren Eingabe an den Rat meinten die Frauen mit feiner Ironie: „Es sei doch ein kläglich erbärmlich Ding, dass man ihnen in einer Zeit, in der evangelischen Freiheit gepredigt werde, das Gewissen gefangen nehmen wolle.“ Alles umsonst! Man ließ wöchentlich vier Predigten in der Klosterkirche halten, und die armen Nonnen mussten die rohesten, unflätigsten Beschimpfungen ihres Standes und Konventes über sich ergehen lassen. Überdies hetzte man das Volk gegen das Kloster derart auf, dass bereits Steine gegen den Chor und die Kirchenfenster geschleudert wurden und die Frauen jeden Augenblick die Erstürmung und Zerstörung des Hauses erwarten mussten. Sie harrten aber standhaft aus unter steten Ängsten und Sorgen.

 

Diese mehrten sich noch. Ein Ratsbeschluss war ergangen, wonach die Eltern befugt sein sollten, ihre Töchter aus dem Kloster zu holen, „es möge diesen lieb sein oder leid“. Von diesem Recht wollten drei Frauen, die Mütter der Schwestern Margareta Tetzel, Katharina Ebner und Klara Nützel, Gebrauch machen und verlangten ihre Töchter. Die erste hatte schon vor neun Jahren, die anderen zwei, Töchter von Ratsherren, vor sechs Jahren Profess gemacht. „O, da hub sich Not und Angst und Herzeleid um die armen Kinder,“ schreibt die Äbtissin, „man kann nit glauben, was sie von derselben Stund für eine elende Zeit haben gehabt, wiewohl sie dennoch immer hofften, sie wollten sich erretten.“ Aber am 14. Juni erschienen die drei Frauen mit ihren Verwandten. Eine große Volksmenge hatte sich versammelt. Die armen Opfer, die man suchte, wollten aber keinesfalls freiwillig ihr liebes Klösterlein verlassen. Sie weinten und jammerten, dass es einen Stein hätte erbarmen mögen; sie umklammerten ihre geistliche Mutter, die Äbtissin, mit schluchzendem Flehen, sie möchte doch nicht zulassen, dass man sie aus dem Kloster reiße, gegen ihren eigenen Willen und gegen ihre Gelübde. Caritas führte sie in die Kapelle. Man verlangte, sie sollte ihnen befehlen, zu den Ihrigen zu gehen. Aber Caritas erwiderte: „Ich kann und will sie zu dem nicht nötigen, was ihnen von Seele und Herzen zuwider ist.“ Nun drangen die Frauen in die Kapelle, „wie grimmige Wölfinnen“. Weiteres Verhandeln, Lärm und Tumult! Die Mütter drohten, sie wollten die Widerspenstigen mit Gewalt herauszerren, ihnen Hände und Füße binden und sie wie Hunde hinaustragen lassen. Die „starken Ritterinnen Christi aber wehrten sich, soviel sie konnten, mit Weinen, Bitten und Flehen. Aber weniger Barmherzigkeit war da, als in der Höll.“ Sie wollten „von sich von dem frommen, heiligen Konvent nicht scheiden, sie wollten ihre Seelen am jüngsten Tag vor dem strengen Richter von ihnen fordern“. Gar tapferlich und beständig redete die mutige Katharina Ebner und begründete alle ihre Worte mit der Heiligen Schrift und bewies ihnen, wie sehr sie wider das heilige Evangelium handelten. Die Herren draußen – es waren sogar Ratsherren mitanwesend – sagten danach, sie hätten ihr Lebtag keinen Menschen dergleichen reden hören, „aber kein vergeben Wort, sunder so wol bedächlich, dass ein jeglich Wort ein Pfund hätt getragen. Hätten sie den Streit vorausgesehen, sie wollten nicht um dreißig Gulden gekommen sein; niemand sollte sie mehr zu einem solchen Schimpf bringen.“ Der wahren Würdigen Mutter aber blutete das Herz. Auf Verlangen und der Gewalt weichend, sprach sie die armen Kinder wenigstens dessen frei und ledig, was sie ihr, der Äbtissin, schuldeten und empfahl sie dem Schutz des Allmächtigen. Da „schrien die drei Kinder als aus einem Mund: wir wollen nit ledig gezählt sein, sondern, was wir Gott gelobt haben, wollen wir mit seiner Hilfe halten. O, liebe Mutter, treibt uns nit also von Euch!“

 

So wurden die drei Martyrinnen des Ordenslebens mit roher Gewalt gefasst, gezogen, geschoben, zu Boden gestoßen, des Ordenskleides beraubt und in den Wagen gehoben. Der armen Schwester Margarete wurde schier ein Fuß abgetreten. Groß war der Jammer der Hinausgestoßenen. Laut beteuerten sie den Leuten, sie litten Gewalt und Unrecht. Schwester Katharina Ebner erhielt noch im Wagen von der eigenen Mutter einen Schlag ins Gesicht, dass das Blut aus dem Mund strömte. Die milde Klara Nützel aber rief laut vor allem Volk: „Du liebe Mutter Gottes, du weißt, dass es mein Wille nicht ist.“ Rohe Landsknechte, die mitliefen, meinten danach mitleidig: wenn sie nicht wegen eines Auflaufes in Sorge gewesen wären, so wollten sie mit dem Schwert dreinschlagen und den armen Kindern geholfen haben.

 

Diese Gewalttat hat über Nürnberg hinaus peinliches Aufsehen erregt. Beschämender noch, aber ebenso bezeichnend für jene Zeit ist die offenbare Geschichtsfälschung. Der offizielle Geschichtsschreiber Nürnbergs, Müllner, gibt nämlich über jene Vorgänge der Nachwelt keck die Kunde: „Es seien auch etlich Klosterfrauen in der Stadt des Klosterlebens überdrüssig worden, denn Hieronymus Ebners, Kaspar Nützels und Friedrich Tetzels Töchter haben die Ordenskleider abgelegt und sich aus dem Klarakloster wieder zu ihren Eltern begeben.“

 

Statt gewaltsamer Angriffe folgten nun Quälereien anderer Art, Ratskommissionen und Bekehrungsversuche. Bei einem solchen Einzelverhör erklärte Caritas: „Liebe Herren, Ihr seid sehr heftige Beichtväter. Die Ohrenbeicht hat man abgeschafft, welche vor einem Menschen abgelegt wird und verschwiegen bleibt, und nun verlangt ihr, dass wir vier Männern beichten und alle Mängel unseres Gewissens vor ihnen ausbreiten sollen, und sagt dabei noch, dass nichts werde verschwiegen bleiben . . . Ihr habt gesagt, es seien dem Rat solche Mängel und Gebrechen unter uns gewisslich vorgekommen. Diese wünschten wir zu wissen. Wir haben uns durch drei Jahre geduckt und geschmuckt wie die armen Würmlein; hätten wir uns unter einem Stein können verbergen, hätten wir es gern getan. Haben wir aber jemand beleidigt, so zeige man es uns an.“

 

So wussten die Festigkeit und Klugheit der Äbtissin die Angriffe auf ihr Kloster abzuwehren, so gut es ging. Wo ihr Gewissen es erlaubte, gab sie nach; wo die Pflicht es forderte, stand sie wie eine Mauer den Männern des neuen Evangeliums gegenüber. Unermüdlich wandte sie sich an einflussreiche Personen, um ihr gutes Recht darzulegen. Vor ihrem Scharfsinn und ihrer geschickten Beweisführung mussten die Abtrünnigen, die sie zu „bekehren“ versuchten, beschämt abziehen. Ein unerschütterliches Gottvertrauen, der feste Entschluss, lieber Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun, spricht sich in den Briefen der unvergleichlichen Bekennerin aus. So blieben die braven Klarissen-Ordensfrauen unter der bewährten Führung ihrer gottseligen Mutter treukatholisch. Nur eine einzige von den sechzig ließ sich umgarnen und trat aus. Beharrlich und ergeben duldeten sie leibliche und geistliche Not. Das Kloster wurde mit einer unerschwinglichen Steuer belastet und zum Aussterben verurteilt. Fünf Jahre lang blieben die Nonnen der Sakramente beraubt, da es für einen katholischen Priester mit Lebensgefahr verbunden war, zu ihnen zu dringen. Manche wurden gemütskrank unter den dauernden Belästigungen und Plackereien. Im Juli 1529 starb Schwester Kreszentia Pirckheimer, eine Nichte der Äbtissin und Tochter Willibalds, ohne Sakramente, aber selig und beglückt. „Herr, seist ewig gelobt,“ hatte sie gejubelt, „dass ich bei dem Konvent soll sterben, du hast mein Gebet erhört!“ Die von menschlicher Hilfe verlassenen Schwestern wussten, wo in aller Not Trost und Stärke zu finden war. Hatte doch das heiligste Herz Jesu gerade im Nürnberger St.-Klara-Kloster eine bevorzugte Stätte der Verehrung gefunden, nicht zuletzt durch die Predigten des unermüdlichen gelehrten Franziskaners Stephan Fridolin (+ 1498). Rührend und vielsagend liest sich auch der Eingang der Pirckheimerschen Briefe aus jenen Tagen: Jesus Christus den Gekreuzigten zum Gruß (pro salute)!

 

Noch ein Sonnenblick unter all dem trüben Leid, wie er im Spätherbst wohl sich zeigt, war 1528/29 dem Klösterlein und seiner edlen Führerin beschieden, ein Doppeljubiläum, das fünfundzwanzigjährige Äbtissinjubiläum und das fünfzigjährige ihres Eintritts ins Haus. Willibalds andere Tochter Katharina berichtet in anmutiger Schilderung des Festes ihrem Vater, wie über Beschreiben groß die Freude gewesen, wie so einmütiglich und herzlich die Liebe, dass sie „die Mutter schier erdrückt hätten“, als „jegliche Schwester durch Umfang und Kuss“ sich aufs Neue mit ihr vereinte. Kindliche Heiterkeit lebte in diesen hartgeprüften, unschuldsvollen Seelen. Ach, wie bald kehrte wieder Betrübnis und Trauer ein! Am 20. Dezember 1530 verlor das Kloster seinen treuen Ratgeber, Beschützer und Helfer: Willibald Pirckheimer. Am 19. August 1532 folgte ihm auch Caritas. Sie wurde am Weihbrunnkessel bei der Kapellentür des Klosters begraben.

 

Bis das Jahrhundert zu Ende ging, war das St.-Klara-Kloster ausgestorben. Die Kirche blieb längere Zeit geschlossen. Dann diente sie dem protestantischen Gottesdienst, wurde nacheinander Warenmagazin, Markt- und Ausstellungslokal und endlich – Kaserne. Ein Bild des Kulturlebens in Deutschland! Doch leuchtete die Hoffnung besserer Zeit! Seit 1854 war die St.-Klara-Kirche wieder Friedensstätte und Wohnung des eucharistischen Heilandes. Das Pirckheimerhaus diente caritativen Zwecken. Es barg ein Lehrlingsheim, wo Schwestern fürsorglich walteten.

 

Wiedervereinigung unseres lieben deutschen Volkes in einem Glauben und einer Liebe sei ständige Gebets- und Kommunionmeinung für alle eifrigen Gläubigen. Unsere frommen Ordensfrauen mögen nach dem Beispiel der heiligen Theresia ihre Gebete, Bußwerke und Kommunionen in gedachter Meinung aufopfern. 

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2.

 

Der Irre von Buchental

Erzählung aus der Zeit des Bauernkrieges von Johannes Buse

 

In der Frühe eines Herbstmorgens des Jahres 1524 ist es. Ein feuchter, schleierhafter Nebel lagert in den Tälern und Niederungen; nur mit Mühe kann man in dem Zwielicht die zunächst liegenden Dörfer und Weiler erkennen, hoch oben aber auf dem waldigen Berg verklären die Sonnenstrahlen die noch fast rauchenden Ruinen der alten Winnenburg, die von dem Vandalismus einer den Gesetzen des Reiches hohnsprechenden Horde erzählen.

 

Zwei Jahre etwa sind es, seit der alte Winnenburger in die Gruft seiner Ahnen hinabgestiegen, zwei hoffnungsvolle Söhne, Lothar und Kurt, seiner trauernden Gemahlin zurücklassend. Lothar, der bereits 26 Jahre zählte, trat das Majorat an; Kurt aber, der jüngere, der kaum das 22. Lebensjahr erreicht hatte, wollte nicht "als Knecht seines Bruders" an der Scholle kleben bleiben und zog, ungeachtet der Bitten und Warnungen seiner frommen Mutter, davon. 

 

Die alte Burgfrau, die sich nach dem Tod ihres Gemahls ganz verlassen fühlte, gab sich nun ganz dem Gebet hin, um so, in Andacht vereinigt mit Gott, ihren Lebensabend ruhig zu beschließen. Um dieses erhabene Ziel noch leichter und sicherer zu erringen, zog sie sich in das nahegelegene Frauenkloster Buchental zurück, wo eine Schwester ihres verstorbenen Gemahls als Äbtissin waltete. 

 

Allmählich brach sich das unter der Asche glimmende, von dem Wittenberger Augustinermönch Luther angefachte Feuer Bahn durch die deutschen Gaue, fast alle Stände mit sich fortreißend zum Kampf gegen die kirchliche Herrschaft. Fürsten, Grafen, Ritter und Edle trennten sich von der alten wahren Kirche Christi und bekannten sich zum neuen "lauteren" Evangelium, ihren Untertanen hiermit den Anstoß zu weiteren Übertritten gebend. Besonders war es der niedere Volksstand, Tagelöhner, Handwerker und vornehmlich Bauern, der sich die Bibelerklärung des Doktor Martinus zu seinen eigenen Gunsten auslegte. Zu Tausenden oft scharten sie sich zusammen, raubend und mordend die Lande durchziehend. Kirchen, Klöster und Edelsitze wurden vom Pöbel ausgeraubt, zerstört und dem Erdboden gleich gemacht.

 

Dieses Schicksal war auch der Winnenburg widerfahren. Graf Lothar hatte sie bis zum Äußersten gehalten. Dann aber brach der Widerstand unter der Wucht des Angriffs. Wie Bestien stürmten die Bauern durch die Gänge, jedes lebende Wesen mit Äxten, Keulen und Morgensternen niederschlagend. Nach wenigen Minuten war die gesamte Besatzung, auch Graf Lothar, der Rotte zum Opfer gefallen; von der alten stolzen Feste blieb nichts übrig, als die jetzt von der Sonne beschienenen Ruinen. -

 

Mit dem Rücken an den Stamm einer alten Eiche gelehnt, steht ein noch junger Mann am Rand des Waldes und lässt seine Augen auf den Trümmern der alten Winnenburg ruhen. Es ist eine kleine, gedrungene Gestalt, die mit ihren stechenden Augen, die von buschigen Brauen überschattet werden, einen unheimlichen Eindruck macht. Eine schon an mehreren Stellen schadhafte Lederhose reicht bis zu den Knien herab, während ein aus Zwilchzeug gefertigtes Wams den Oberkörper umschließt. Ein breitrandiger Hut, mit einer Hahnenfeder besteckt, bildet die Ergänzung des abenteuerlichen Kostüms. Es ist dies der Führer einer Bauernschar, es ist Kurt von Winnenburg, der noch vor wenigen Tagen die Zerstörung seines väterlichen Stammgutes geleitet und selbst seinem Bruder Lothar im Tod noch das Schwert in das erstarrende Herz gestoßen hat. - Immer noch weilen seine Blicke auf den Trümmern der Burg, wobei ab und zu ein höhnisches Lächeln um seine unschönen Züge huscht. Plötzlich fühlt er sich auf der Schulter von einer Hand berührt. 

 

"Ei, Kurt, schon wieder am träumen?" redet ihn gleichzeitig eine Stentorstimme an. 

 

Sich umwendend, blickt Kurt in das von wirr herabhängenden Haaren umrahmte Gesicht seines Freundes und Vertrauten Jost. - "Jost, wie du mich erschreckt hast."

 

"Hahaha! Auch noch erschreckt? - Bist ja recht zimperlich geworden, seitdem du den roten Hahn auf die Zinnen der Winnenburg gesetzt hast." 

 

Eine dunkle Glut steigt in Kurts Gesicht auf, während ihn Jost scharf fixiert.

 

"Jost", spricht Kurt erregt, indem er die zu seinen Füßen liegende Hellebarde ergreift, "entweder bleibst du mir mit deinem dummen Geschwätz endlich vom Leib, oder wir beide bleiben keine guten Freunde, merk dir`s!"

 

"Das muss ich sagen, Kurt, bist ein hitziger Bursche", entgegnete Jost lachend, um gleich darauf in energischem Ton fortzufahren: "Nun aber mach der Untätigkeit ein Ende. Zwei Tage schon liegen wir hier. Die Leute des Wartens müde; ein unzweideutiges Muren macht sich unter ihnen bemerkbar."

 

Diese Worte bringen Leben in die Gestalt des Bauernführers. Erregt gestikulierend antwortet er: "Wer hat die Schuld? - Sind nicht schon alle Edelsitze auf sechs Stunden im Umkreis dem Erdboden gleichgemacht? - Sind nicht schon alle Kirchen und Güter ausgeraubt und geplündert?"

 

"Alles geschah nur, um der neuen Lehre den Weg zu bahnen."

 

"Nun wohl, hier sind dem lauteren Evangelium alle Hindernisse aus dem Weg geräumt; uns bleibt nichts zu tun übrig, als weiter in das Land zu ziehen und anderwärts das zu beginnen, was wir hier vollendet haben." 

 

"Magst du recht haben, Kurt, und doch ist auch hier für uns noch zu tun. Wer das Unkraut vertilgen will, muss es bei der Wurzel fassen. Oder sollen wir unsere mühsam geebneten Wege den papistischen Dienern wieder anheimfallen lassen?" Zornig funkeln Josts Augen bei diesen Worten, in seinen Zügen ist eine raubtierartige Gier zu lesen.

 

"Sprich deutlicher, Jost, ich verstehe dich nicht"; entgegnete Kurt.

 

"Du verstehst mich nicht? - Willst mich nicht verstehen! - Schau dort", spricht der erregte Bauer, mit der Rechten ins Tal weisend, wo die Türme des Klosters Buchental aus dem herbstlichen Blätterschmuck hervorleuchten, "was ist das?"

 

"Was soll die dumme Frage? - Das Kloster Buchental kennt jedes Kind."

 

"Nun wohl, sollen wir es als Zuchtstätte des römischen Glaubens verschont lassen?"

 

Über das Gesicht des Bauernführers fliegt ein Zug des Schmerzes. 

 

""Werden sie, die Nonnen, das Volk nicht bald wieder auf den Weg des alten Glaubens lenken, während wir keine Mühe und Opfer gescheut haben, um dem lauteren Evangelium hier Eingang zu verschaffen? - Würden wir nicht Wölfe zu Schafmeistern machen? - Sprich, Kurt!"

 

"Was können uns die Weiber schaden?" - wagt der Angeredete einzuwenden.

 

"Das fragst du noch? - Nun ja, ich weiß, weshalb du zauderst: ist nicht eine Winnenburgerin dort Äbtissin?"

 

"Die Schwester meines seligen Vaters."

 

"Muss uns ganz gleichgültig sein" antwortete Jost barsch.

 

"Jost, sie ist außer mir die Letzte aus dem Stamm derer von Winnenburg. - Soll denn das alte, rumreiche Geschlecht mit einem Mal mit Stumpf und Stil vernichtet werden?"

 

"Dann mag sie von ihrem römischen Aberglauben ablassen."

 

Kurt blickt sinnend in die Ferne und lässt seine Augen auf dem stillen Frauenkloster ruhen.

 

"Wenn morgen früh der Hahn kräht, ist die ganze Sippe vom Erdboden vertilgt, oder sie bekennt sich zum lauteren Evangelium unseres Doktor Martinus."

 

Wie ein elektrischer Strom durchzuckt es die Glieder Kurts. "So willst du mir doch die Letzte rauben, die meinen Namen trägt? - Bist du es nicht gewesen, der mich antrieb, die Burg meiner Väter zu zerstören, unter deren Trümmern die begraben liegt, die jedem Kinderherzen nahesteht - die Mutter? Bist du es nicht gewesen, der mich antrieb, dem einzigen Bruder das Schwert ins todesstarre Herz zu stoßen? - Pfui, Jost, ich möchte dich verabscheuen . . ."

 

"Wenn du nicht an mich gebunden wärest", unterbricht ihn Jost, teuflisch lachend. "Ein Wort von mir genügte, und unsere Leute würden dich, ihren Führer, mit den grausamsten Qualen zu Tode peinigen, wenn nicht gar auf dem Scheiterhaufen verbrennen. - Darum nimm Vernunft an, zerreiß die Bande, die dich an die Äbtissin ketten, und sei in Zukunft auch das, was du bisher gewesen bist: ein Feind aller papistischen Greuel!"

 

Kurt antwortet nicht; das Haupt gesenkt, stiert er zu Boden. Ein fürchterlicher Kampf wütet in seinem Innern. Obgleich er schon eine geraume Zeit mit dem Pöbel geraubt, geplündert und gemordet hatte, erfüllt ihn doch der Plan seines Genossen Jost mit Entsetzen. Er sieht sich als Knabe mit der Tante im Klostergarten, noch fühlt er ihre segnende Hand auf seinem Scheitel ruhen, und nun soll er diese ehrwürdige Matrone zwingen, den neuen Glauben anzunehmen oder . . . Er wagt nicht weiter zu denken. Und doch, er sieht es ein, er muss, um sein Leben zu retten, so niederträchtig handeln. Beim Aufstand der Bauern hat er sich, angelockt durch deren freies Leben und die zahlreichen Erbeutungen, ihnen als "Bauer" angeschlossen. Niemand weiß, wer er in Wirklichkeit ist; als "Genosse Kurt" ist er bei den Bauern bekannt, die ihn schon in den ersten Wochen zu ihrem Führer ernannten. Einem jedoch hat Kurt alles anvertraut: Jost, der nun dieses Vertrauen als Waffe benutzt, um den Führer in Schach zu halten.

 

"Nun, wie hast du dich besonnen?" nimmt Jost wieder das Wort, nachdem er eine Weile vergeblich auf Antwort gewartet hat. 

 

Zitternd richtet Kurt sein Haupt empor. "Nun wohl, ich muss!"

 

"Das ist einmal recht gesprochen", entgegnet Jost, wobei er Kurt einen derben Schlag auf die Schulter versetzt. "Konnte auch nicht denken, dass du anders handeln würdest."

 

"Gezwungen nur folge ich dem Willen. - Mein letztes Werk!"

 

"Dein letztes Werk? - Hahaha! - Das hast du schon oft gesagt. Wenn erst der Wein aus dem Klosterkeller durch deine Kehle rinnt, wirst du anders denken."

 

"Jost, du bist ein Teufel!"

 

"Mag sein", gibt dieser lachend zur Antwort, "nun aber sage mir, wenn wir aufbrechen sollen, damit ich unseren Leuten Nachricht geben kann." 

 

"Wenn die Sonne untergegangen ist", gibt Kurt eintönig zur Antwort, worauf er wieder in dumpfes Brüten verfällt.

 

Jost aber schreitet schnell in den Wald hinein, wo er bald eine Rotte Bauern erreicht, die, ein Fass Wein in der Mitte, auf dem Boden hingestreckt liegen. Mit wüstem Gesang begrüßen sie die ihnen durch Jost zuteil gewordene Antwort ihres Führers. Goldene Kelche und Ziborien, die aus Kirchen geraubt waren, wurden mit Wein gefüllt und kreisen dann unter der rohen Horde, während einige vor Trunkenheit lallende Stimmen ein triviales Lied in den schönen Morgen hineinschreien.

*       *       *

 

Abend ist es. - Die Dunkelheit breitet bereits ihre schwarzen Schatten über die Landschaft, stiller Frieden liegt auf der ganzen Natur.

 

Deutlich heben sich die Umrisse des Klosters Buchental vom Abendhimmel ab. In dem Klostergebäude herrscht Ruhe, die Fenster des hübschen gotischen Kirchleins aber sind hell erleuchtet, und der Schall eines kräftigen Gebetchores dringt ins Freie. Weihevoll, fast flehend, steigen die Gebete der frommen Klosterfrauen aus dem stillen Heiligtum zum Schöpfer des Weltalls empor, als wollten sie Schutz erbitten für die angebrochene Nacht. Allein das Schicksal des Klosters ist besiegelt.

 

Einer Schlange gleich, zieht ein düsterer Schatten durch das Tal auf das Kloster zu: es ist die von Kurt geführte Bauernschar. Kurt und Jost an der Spitze, ziehen die Wüstlinge zu dem stillen Gottesgarten, um hier die Blumen zu knicken, die zu Gottes Ehre dort wachsen und blühen. Bald ist die rohe Horde an der das Kloster umgebenden Mauer angelangt; ein paar wüste Schläge mit einem Kolben gegen das alte Holztor, und es bricht zusammen. Über dessen Trümmer dringen die Bauern in den stillen Klosterhof, um bald in den Gebäulichkeiten zu verschwinden.

 

Schrecken und Grauen erfasst die zum Chorgebet vor dem Altar knienden Nonnen, als wüste Männerstimmen und Waffengeklirr in die Kirchenhallen dringt, denn dies bedeutet nichts anderes für sie als Raub und Mord. Anfangs malt sich Furcht und Schrecken auf dem Gesicht der alten Äbtissin. Sie ist unschlüssig. Soll sie mit ihren geistlichen Töchtern fliehen? Soll sie diesen Unmenschen Widerstand entgegensetzen? Beides wäre unnütz. Körperlich gebrochen, wie sie scheint, stützt sie sich auf ihre zur Seite kniende Schwägerin, die Gräfin von Winnenburg. Dann richtet sie sich zu ihrer ganzen Höhe empor und wendet sich an die ängstlichen Nonnen: "Meine Töchter, unsere Heimsuchung naht, jetzt hat unsere Entscheidungsstunde geschlagen. Sollen wir nun unsere dem Herrn allein geweihten Seelen diesen Wüstlingen überliefern?"

 

"Für Jesus leben und sterben wir!" schallt ihr wie aus einem Munde die Antwort ihrer geistlichen Kinder entgegen.

 

Wie verklärt erscheint nun das Antlitz der alten Äbtissin, als sie ihre Hand zum Segen erhebt und die Worte spricht: "Der Herr segne euch und bewahre eure Seelen!"

 

"Amen!" hallt es im Chor durch das stille Gotteshaus.

 

Das Chorgebet wird fortgesetzt. Flehentlicher denn je steigen die Gebete empor, aller Augen sind auf das große Altarkreuz gerichtet. Die Gräfin von Winnenburg kann die hervorbrechenden Tränen nicht bannen. - Ob sie vielleicht ahnt, wer der Führer dieser Räuberhorde ist? - Doch sie kann es ja nicht wissen. Seitdem ihr Sohn die Burg seiner Väter verließ, hat sie nichts wieder von ihm vernommen. -

 

Kurt steht auf dem geräumigen Klosterhof mit dem Rücken an die Mauer gelehnt, gedankenvoll blickt er bald durch das Kirchlein, bald auf das Kloster. Welch ein Kontrast: aus diesem dringen Flüche und Verwünschungen der Bauern, die ihre Raubgier befriedigen und die geweihten Hallen entheiligen, aus jenem steigen fromme Gebete flehentlich empor zum Himmel. 

 

Da - mit einem Mal steigen an verschiedenen Stellen des Daches kleine weiße Wölkchen auf, denen bald gierig züngelnde Flammen folgen. Sie nehmen bald größere Dimensionen an und nun gleicht das Kloster einem Flammenpfuhl, der mit seinem grellroten Schein den zweiten Hof geisterhaft beleuchtet. Bald finden die Flammen den Weg zum Dach des Kirchleins und hüllen Schiff und Turm in Feuer ein. Unter diesen Gluten aber beten die frommen Ordensfrauen um Rettung ihrer Seelen. - Schon sinkt das Dach des Klosters, da stürzt die Bauernrotte aus dem Gebäude, ihre Beute ist ein Fass Wein, wie er von en Nonnen zu Krankenzwecken gebraucht wird. 

 

"Scheinst recht gute Beute gemacht zu haben!" ruft Kurt dem wie wild dahinrasenden Jost zu. 

 

Betroffen bleibt der Angeredete stehen, mit grimmiger Miene in das vom Feuer beleuchtete Gesicht Kurts blickend. "Dort", sagt er in rauem Ton, indem er auf das brennende Kirchlein zeigt, "werde ich mir holen, was ich im Kloster vergebens gesucht habe."

 

"Es ist zu spät, Jost", sagt Kurt mit einem Anflug von Hohn. 

 

"Nicht für mich, und keine Macht der Hölle soll mich finden."

 

"Jost, bleibe zurück!" warnt Kurt.

 

"Nimmer, Feigling! Magst du dich auch schnöde zurückhalten, so weiß ich doch, wohin meine Wege führen. Glaubst wohl, ich merkte nicht, dass du die Weiber retten willst? Allein schau dort, ihr Totenlichtchen brennt, und kommt mir`s in den Sinn, wird es auch das deinige werden." Dann wendet er sich zum Gehen und schreitet auf die Kirchentür zu.

 

"Verfluchter Gleisner!" schreit Kurt ihm nach, dann schreitet auch er auf das Gotteshaus zu, um Josts Handlungen zu beobachten.

 

Drinnen aber im Kirchlein beten die Nonnen gerade die Psalmen. Von langen weißen Schleiern umhüllt, knien die Bräute Christi am Altar, während glühendheißer Rauch sie zu ersticken droht.

 

Jost ist an der Pforte angelangt, reißt die eichene Tür auf und stürzt in das Gotteshaus, während Kurt seine Bewegungen mit den Augen verfolgt. Allein, kaum ist der Wüstling in das Kirchlein getreten, da klirren die Fenster, und herein schlägt die rote Flamme in langen, schauerlichen Zügen. Erschreckt bleibt Jost in der Mitte des kleinen Gottshauses stehen.

 

Die vor dem Altar kniende Gräfin von Winnenburg hat sich erhoben und richtet ihre Blicke auf den Ausgang der Kirche, in deren Tür die Gestalt Kurts sichtbar ist. In diesem Augenblick begegnen sich die Blicke des Sohnes und der Mutter. Gleichzeitig werden zwei gellende Aufschreie laut. "Kurt, mein Sohn!" - "O Mutter!" schallt es vom Altar und vom Eingang der Kirche her. Dann wird es still und man hört nichts wie das Knistern und Prasseln der Flammen. Während die Gräfin von Winnenburg an der Seite der Äbtissin zusammenbricht, stürzt Kurt rückwärts aus der Tür und bleibt wie leblos auf dem Klosterhof liegen.

 

Leichenblass steht Jost in der Kirche. Unschlüssig mit sich selbst, weiß er nicht, ob er vorwärts oder rückwärts gehen soll. Da kracht das Gewölbe, der Estrich sinkt, prasselnd wirbeln die Flammen empor. Noch einmal ertönt ein schwaches Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto durch die rauchgeschwärzten Hallen, dann stürzt das weite Dach der Kirche ein, unter den Trümmern die Klosterfrauen begrabend und sie so rettend vor Schmach und Schande.

*       *       *

 

Die Sonne steht schon hoch am Himmel, als Kurt aus seiner Betäubung erwacht. Unstet lässt er seine Augen umherschweifen, alles kommt ihm vor wie ein Traum, doch die rauchenden Trümmer des Klosters, die er vor sich erblickt, belehren ihn, dass hier die Wirklichkeit gewaltet hat. Jetzt tritt die ganze Szene wieder vor seine Augen; er sieht die Blicke seiner Mutter bittend und zugleich vorwurfsvoll auf sich gerichtet, er hört ihren Ruf: "Kurt, mein Sohn!" - O, diese Erinnerungen, sie pressen ihm die Seele zusammen. - Er ist zum Mörder seiner Mutter geworden. - Heftig schluchzend, vielleicht das erste Mal wieder seit langer, langer Zeit, verbirgt Kurt sein Gesicht in die Hände und ein über das andere Mal ruft er den Namen "Mutter!", allein nichts antwortet ihm, wie das dumpfe Echo. Dann zerrauft er sein Haar, schreitet durch die öden Trümmerhaufen, als ob er etwas suche, und kehrt dann nach erfolglosem Beginnen wieder zurück. - Einsam steht nun der Bauernführer an dem schauerlichen Grab seiner Mutter, das auch das Grab Josts, seines Genossen und Vertrauten geworden ist. Wo sind sie geblieben, seine Freunde und Anhänger? Wie der Rauch im Wind sind sie spurlos verschwunden, ihn seinem Schicksal überlassend. - Bittere Reue zieht in Kurts Herz ein. Er verflucht die Stunde, wo er der Winnenburg den Rücken gekehrt, wo er sich dem Aufstand der räuberischen und mörderischen Bauern angeschlossen hat. O wie gern möchte er nun alles ungeschehen machen. Wie gern möchte er nun mit seinem Herzblut das Leben seines ermordeten Bruders, seiner teuren Mutter erkaufen, doch "zu spät" scheint ihm jeder Windstoß zuzurufen, und das Wort "Mörder!" glaubt er auf jedem grünen Blatt zu lesen. Überall lässt ihm seine leicht erregte Phantasie die gemordeten Opfer erscheinen, ihn peinigend und quälend. 

 

Doch das Vertrauen auf Gottes Güte und Barmherzigkeit, der einzige Hoffnungsanker, woran sich der reumütige Sünder nach seinem Fall klammert, schlägt auch in Kurts Seele aufs neue tiefe Wurzeln. Was er nun schon seit fast zwei Jahren bekämpft, was er als "Aberglauben und Torheit" bezeichnet hat, ergreift er nun wieder in seiner Verlassenheit und Seelenqual. Er betet wieder, betet mit der ganzen Inbrunst seiner Seele. Jetzt erkennt er mit einem Mal die so kräftige Wirkung des Gebetes, jetzt hofft er durch den Arm des Gebetes Gottes Gnade und Verzeihung zu finden für sein bisheriges Sündenleben. -

 

Jahre sind vergangen. Unter der Leitung des Hauptmanns Georg Truchsess von Waldburg hat ein schwäbisches Bundesheer die schlechtbewaffneten und zum offenen Krieg nicht geübten Bauernhorden auseinandergetrieben. Der Bauernkrieg gehört der Vergangenheit an.

 

Aus den rauchgeschwärzten Trümmerspalten des Klosters Buchental wachsen Moose und Blattpflanzen hervor; keine menschliche Hand hat die Steine zu neuen Bauten wieder zusammengefügt. Kein menschlicher Fuß betritt die Stätte, wo sonst Gottes Lob aus dem Mund frommer Frauen erklungen, nur das Käuzchen haust in den Mauerhöhlen und lässt seinen schauerlichen Ruf zum Grausen der abergläubischen Bewohner erschallen. Zieht ein Wanderer des Weges, so lässt er seine Augen nur scheu und flüchtig über die Trümmer gleiten und beschleunigt dann seine Schritte, um nur so schnell wie möglich aus dem Bereich des Schreckens zu kommen. -

 

Vielleicht einen Steinwurf von den Trümmern entfernt, liegt zwischen Buchen und Eichen versteckt eine aus Brettern und Baumpfählen zusammengefügte Hütte: die Wohnung Kurts von Winnenberg, des ehemaligen Bauernführers. Nach dem Klosterbrand hat er den stillen Buchenhain bezogen, von dem das Kloster seinen Namen hat, um hier am Grab seiner Mutter durch Gebet und Abtötung zu büßen, was er an dieser Stelle dereinst verschuldet. Niemand vermutet in ihm den noch vor einigen Jahren vor Gesundheit und Kraft strotzenden Kurt von Winnenburg, noch jung an Jahren, gleicht er doch schon einem Greis. Sein gebeugter Gang, seine eingefallenen gefurchten Wangen, die tiefliegenden Augen, dies alles deutet auf die Seelenschmerzen hin, die Kurts Körper seit jener Schreckensnacht erschüttert haben. Wie er die Menschen meidet, so meiden diese ihn. Zwar haben sich die in der Nähe Wohnenden an seinen Anblick längst gewöhnt, seiner abgesonderten Lebensweise und seiner scheinbaren Menschenfurcht wegen wird er allgemein für irrsinnig gehalten. Abergläubische und Furchtsame glauben in ihm sogar einen Dämon zu erblicken, dem die Aufgabe zugefallen ist, die Schätze des durch Brand zugrunde gegangenen Klosters zu bewachen. -

 

Wieder ist eine Zeit vergangen. Seit einigen Tagen hat man den Einsiedler nicht mehr gesehen. Einige beherzte Männer suchen seine Hütte auf - sie ist leer. Wie sie nun ihre Schritte über die Ruinen des ehemaligen Klosters lenken, sehen sie an der Stelle, wo der Hochaltar gestanden hat, einen menschlichen Körper am Boden liegen: es ist der Gesuchte. Wie sie nähertreten, sehen sie, dass er tot ist. Lang ausgestreckt, das Gesicht zum Himmel gewandt, in den erstarrten Händen ein Kreuzchen haltend, so hat er auf dem Trümmergrab seiner Mutter sein Totenbett gefunden. Hier, wo er sündigte, hat er auch gesühnt. -

 

An der Stelle, wo man den leblosen Körper gefunden, ist er auch begraben. Mit den Trümmern der durch ihn zerstörten Kirche hat man ihn bedeckt. Mit seinem Tod verschwand auch bei den Abergläubischen die Furcht. Eine mitleidige Seele errichtete auf seinem Grab ein schlichtes Holzkreuz, das die eingeschnittenen Worte trug: Hier ruht der Irre von Buchental. 

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3.

 

Zeitgenössische Aufzeichnungen des Weltpriesters Heinrich von Pflummern

Veröffentlicht von A. Schilling, Kaplan in Biberach, 1875

Freiburger Diözesan-Archiv der Erzdiözese Freiburg, 9. Band

 

Aus Schillings Vorwort:

 

Der Verfasser des nachfolgenden Berichtes, Heinrich von Pflummern, ist der Spross eines alten, ehedem sehr angesehenen und verdienten Patriziergeschlechtes der Reichsstadt Biberach. Sein gleichnamiger Vater war Stadtammann und seine Mutter Ursula von Weinschenk, die ihn den 5. September 1475 daselbst gebar. Von seinen Jugendjahren ist uns nichts bekannt; nach späteren handschriftlichen Berichten entschloss er sich im 22. Lebensjahr zum geistlichen Stand und vier Jahre später, am Fest des hl. Apostels Thomas, den 21. Dezember 1501, feierte er sein erstes hl. Messopfer.

 

Pflummern hatte als Priester nie ein kirchliches Benefizium angenommen, „damit er nicht durch empfangenes Stipendium oder geistlichen Lohn gegen Gott, seinen Erschaffer und Erlöser, dem man ohnehin genug schuldig sei, sich noch eine größere Schuld aufbürde,“ sondern lebte ausschließlich von seinem Patrimonium, von dem er noch einen Teil zu frommen Stiftungen und anderen guten Zwecken verwendete. Während 24 Jahren las er in der Siechenstube des Biberacher Hospitals die hl. Messe „umsonst, allein zur Ehre Gottes und zum Heil der Dürftigen und Kranken“. Zwei Jahre vor Abschaffung der Messe durch den Biberacher Rath musste er diesen Ort, wohin er 1507 einen Altar und 1523 eine Wochenmesse gestiftet hatte, aufgeben „des Bubenvolkes wegen, das darin war und das dem Sakrament viel Unehre antat“.

 

Als die Neuerungen Luthers auch in Biberach Boden gewannen und unter Laien wie Geistlichen zahlreiche Anhänger fanden, da war es der Priester Heinrich von Pflummern, an dem dieselben einen mutigen und, wie es die Zeitverhältnisse mit sich brachten, scharfen, ja oft schroffen Gegner erhielten. Zwar bekämpfte er sie weniger durch Wort oder Schrift, als besonders durch sein Beispiel. Er mied nicht nur sorgfältig Predigt und Gottesdienst des neuen Glaubens und selbst den anderweitigen Verkehr mit dessen Anhängern, sondern er bekundete recht absichtlich und auf eine recht in die Augen fallende Weise seine treue, unbeugsame Anhänglichkeit an den alten Glauben. „Ich weiß“, sagte er, „keinen alten Brauch oder Gebot der Kirche, ich hab ihn helfen handhaben, bis ich aus der Stadt musste“; und wiederum: „Bin von keinem alten, rechten Gottesdienst gewichen, sondern habe ihn helfen handhaben, bis alles aufhören musste.“ Er betete vor Heiligenbildern, besuchte Kirchen und Altäre, kniete in Andacht vor dem hochwürdigsten Gut, machte Wallfahrten und Bittgänge. Als am Markustag niemand mehr in Prozession um den Ösch ging, tat er es allein. „Hab in der Lutherei die Gäng nie abgestellt, wie es auch Wetter war; bin fröhlich durch die Luther gangen, wiewohl ich dick verspottet bin worden.“ Als niemand mehr dem Priester am Altar dienen wollte, diente er selbst denen, „die noch recht Mess hatten“. „An Feiertagen ging ich mit Fleiß in das Amt in meinem Chorhemd, Kappenzipfel usw., wenn die Leut aus ihrer lutherschen Predigt gingen vor unserm Amt, dass man sehe, dass ich die luthersche Predigt fliehe.“ „In der Ablasswoche (Fronleichnamsoktav) stand oder kniete ich allweg am Morgen vor dem Sakrament, betete meine Zeit davor und hatte eine große brennende Kerze dabei. Und wenn der luthersche Prediger auf der Kanzel war und wollte die Predigt anfangen, da löschte ich das Licht aus, tat das Buch zu und ging aus der Predigt. Das tat ich mit Fleiß, dass jedermann sehe, dass ich vorm Sakrament meine Zeit gebetet und die lutherische Predigt fliehe.“ Wenn seine Biberacher Standesgenossen mit dem katholischen Glauben auch die äußeren Zeichen ihres Standes ablegten, das Priestergewand mit Laienkleidern vertauschten, so war ihm dies ein Sporn, an der alten, ehrbaren Sitte noch mehr festzuhalten. „Ich habe mein Paternoster, Chorhemd, Kappenzipfel, langen Rock und was zu einem alten Priester gehört, Barett, Schuhe usw. nie keine Stund lang zu Biberach unterwegen gelassen, wollt ich auch nur über die Gasse gegangen sein. Das mich noch nie hat gereut, auch mit Messe haben, Kirchen gehen, so viel ich des alten Wesens hab finden können. Tue das noch alles, wills mein Leben lang tun, sollten auch alle Menschen lutherisch werden im deutschen Land.“

 

So kämpfte Heinrich von Pflummern sieben Jahre lang; als aber der Rat zu Biberach am Osterdienstag 1531 die Messe abschaffte, da glaubte er es seinem priesterlichen Beruf schuldig zu sein und verließ gleich am darauffolgenden Tag in aller Frühe seine Vaterstadt und begab sich nach dem 4 Stunden von Biberach entfernten, von der Glaubensänderung stets frei gebliebenen Städtlein Waldsee, wo er bis zu seinem Tod zubrachte. Da wohnte er in großer Abgeschiedenheit in der Nähe der Pfarrkirche, die er nie anders, als im Chorrock betrat. Über diesem trug er eine Stola von dunkelgrüner Farbe, wie sie nach der Gewohnheit der damaligen Zeit jene Geistlichen trugen, die ihre nächsten Befreundeten betrauerten. Für ihn sollte sie ein stetes Mahnzeichen sein, dass er im Tal der Tränen lebte und trauern müsse, um einstens die ewigen Freuden genießen zu dürfen. Um niemals müssig zu gehen und zugleich seinen Leib abzumüden, verwendete Pflummern die Zeit, in der er sich nicht mit geistigen Dingen beschäftigte, auf religiöse Bildhauerei, und stellte dann die von seiner Hand gefertigten Bildwerke an öffentlichen Orten zur frommen Erbauung auf. So hatte er auch das Totenbild seines eigenen Leibes in die Decke seines Zimmers eingeschnitten, um durch dasselbe alle Zeit an sein Ende erinnert zu werden.

 

Kein Wunder, wenn die Bewohner Waldsees, sowie die Religiosen des dortigen Augustinerklosters Heinrich in hohen Ehren hielten und wenn der Altar in der Waldseer Pfarrkirche, auf welchem er das hl. Messopfer darzubringen pflegte, und der gleich am Eingang zur rechten Seite stand, noch im 17. Jahrhundert „des Herrn von Pflummern Altar“ genannt wurde.

 

Pflummern lebte nach seinem Wegzug von Biberach noch 30 Jahre. Als 76jähriger Greis feierte er 1551 seine Sekundiz. Im 86. Jahr seines Lebens, am Sonntag Jubilate, den 28. April 1561, gab er zwischen 4 unf 5 Uhr nachmittags seine Seele in die Hände seines Schöpfers zurück. Seine irdische Hülle wurde in der Pfarrkirche zu Waldsee in dem mittleren Gang unter der Orgel beerdigt.

 

In der v. Pflummernschen Kaplaneiwohnung zu Biberach befindet sich noch ein Ölgemälde mit seinem Bild im Chorrock und dunkelgrüner Stola, mit der rechten Hand einen großen Rosenkranz vor der Brust haltend. Zur linken Seite oben stehen folgende Worte: „Henricus de Pflummern, sacerdos, nat. 5. Sept. 1475; 2do primitias celebravit; ob. 28. April. 1561; sepultus in Waldsee; lucens in vita miraculis.“

 

Den handschriftlichen Nachlass Heinrichs von Pflummern anlangend, entstand derselbe nach des Verfassers eigener Angabe in der Fastenzeit des Jahres 1545 zu Waldsee; damit ist wohl nur die letzte Reinschrift gemeint, die Aufzeichnungen selbst wurden ohne Zweifel früher, noch in Biberach gemacht. Darauf weisen einige unvollständige Sätze hin, sowie die durchweg gleiche Schrift, die den Eindruck macht, als wäre sie ohne alle Unterbrechung geschrieben worden.