Die heilige Mutter Anna

 

Die katholische Kirche hatte von den ersten Zeiten her die heilige Anna in hohen Ehren als die gebenedeite Mutter der allerheiligsten Gottesgebärerin Maria, die uns das Heil gebracht hat und die Ursache unserer Freude ist. "Die Verehrung der heiligen Anna," schreibt Baronius, "ist so alt, als die Kirche selbst; sowohl gen Aufgang, als auch gen Niedergang der Sonne verehrte man sie gleich vom Anfang an."

 

Schon die Apostel sollen das Haus von Nazareth, in dem die heilige Anna mit dem heiligen Joachim gewohnt und Maria zur Welt gebracht hatte, in eine Kapelle verwandelt haben. Die heilige Helena, die Mutter des Kaisers Konstantin, erweiterte diese Kapelle zu einer Kirche. Frühzeitig wurde auch über dem Haus der heiligen Anna, wo sie in Jerusalem, so oft sie dahin gekommen war, gewohnt hatte, ein Kloster gebaut, das jedoch jetzt in eine türkische Moschee umgeändert ist. Im Jahr 550 nach Christi Geburt wurde zur Ehre der heiligen Anna in Konstantinopel eine prachtvolle Kirche erbaut, in der ihr heiliger Leib unter vielen und großen Ehrenbezeugungen aufbewahrt wurde, bis er später durch die Kreuzfahrer nach Frankreich überführt und Reliquien dieser Heiligen im ganzen Abendland verbreitet wurden. Von dieser Zeit an wurden in allen Ländern der Christenheit zur Ehre der heiligen Anna Kirchen und Kapellen erbaut, Altäre und Bildsäulen errichtet und auf ihren Namen feierlich eingeweiht. Auch mehrere Klöster wurden auf den Namen und unter dem Schutz dieser Heiligen gegründet. Tausende und abertausende von Mädchen erhielten von nun an in der heiligen Taufe den Namen Anna. Etwas später errichtete man auch viele Bruderschaften zur besonderen Verehrung der heiligen Anna. Menschen aus allen Ständen, jedes Alters und Geschlechtes traten diesen Bruderschaften bei. So traten, um nur ein einziges Beispiel anzuführen, als im Jahr 1619 zu Salzburg die St. Anna-Bruderschaft errichtet und bestätigt wurde, der damalige Hochwürdige Herr Erzbischof, der Bischof von Chiemsee, der Prälat von St. Peter, das ganze Salzburgische Domkapitel, die Frau Äbtissin auf dem Nonnenberge samt ihrem ganzen Konvent, viele hochgeborene Frauen und Fräuleins, und Tausende aus dem Bürger- und Bauernstand dieser Bruderschaft als Mitglieder bei.

 

Die Kirche hat die zur Ehre der heiligen Mutter Anna eingeführten Bruderschaften gut geheißen, bestätigt und mit reichlichen Ablässen und anderen geistlichen Privilegien begabt, und eben dadurch zu erkennen gegeben, wie sehr sie die Verbreitung der Verehrung der heiligen Anna wünscht. Sie erkannte nur zu gut, wie viel Grund sie habe, die Ehre dieser Heiligen zu befördern. Sie erkannte es wohl, dass die heilige Anna durch die Mutterschaft der Gottesmutter mehr zum unaussprechlichen Geheimnis der Menschwerdung des göttlichen Wortes beigetragen habe, als alle Patriarchen des alten Bundes durch ihre Seufzer, Tränen und Verdienste. Sie erkannte, dass ihre Mutterschaft fruchtbarer gewesen sei, als die Fruchtbarkeit aller anderen Frauen des alten Bundes. Sie erkannte, dass, wenn die Familie des Tobias sich dem Engel Raphael, der ihrem Sohn zum Führer auf der Reise gedient hatte, zu großem Dank verpflichtet hielt, die große Familie des christlichen Volkes noch größere Dankbarkeit der heiligen Anna schuldig sei, da sie die Jugend der allerheiligsten Gottesgebärerin Maria und ihres göttlichen Sohnes Jesus pflegte und beschützte. Sie erkannte endlich, mit welcher Liebe, Ergebung und Standhaftigkeit die heilige Anna alle Mühen, Arbeiten und Sorgen als Ernährerin, Erzieherin und Beschützerin ihrer hochgebenedeiten Tochter und ihres göttlichen Sohnes ertragen habe. Bei der Erkenntnis so großer Verdienste hielt die heilige Kirche sich verpflichtet, die glorreiche Mutter Anna als ihre besondere Wohltäterin anzusehen und ihr durch Verehrung und Ermunterung ihrer Gläubigen zu dieser Verehrung die Schuld der Dankbarkeit abzutragen. Sie spricht gleichsam zur Heiligen: "O heilige Mutter Anna, ich übergebe deinen Händen alle meine Kinder. Möge es ihnen wohl ergehen unter deinem so viel vermögenden Schutz! Jesus, dein Enkel, ist mein Bräutigam, Maria, deine unbefleckte Tochter, ist meine Mutter und meine Königin, und du sollst meine Fürsprecherin und Beschützerin sein. Da du die Mutter des göttlichen Erlösers zur Tochter hattest, sind ihre Kinder, d.h. alle meine Gläubigen, auch deine Kinder geworden. Alle Dienste, die du Mariä geleistet hast, leistest du in gleicher Weise allen, die ihre Kinder geworden sind. Wie könnte ich dir jemals eine deinen Verdiensten und Wohltaten angemessene Verwehrung erweisen? Ich werde dich preisen als Glorie der Engel und Heiligen, als die unüberwindliche Stütze der Christenheit, als die große Beförderin unseres Heils, als die Zuflucht der Betrübten und als die Mutter der Armen; kurz, um alle Titel und Lobsprüche in zwei Worte zusammenzufassen, ich will dich nennen die Mutter Mariä und die Großmutter Jesu Christi."

 

Die Kirche hat vom Anfang an bis heute ihren Eifer für die Verehrung der heiligen Mutter Anna kundgegeben, um ihre Gläubigen zur Andacht zu dieser großen Heiligen zu ermuntern, und ihnen ein kräftiges Mittel des Heils an die Hand zu geben. Handelt also derjenige nicht gegen den Geist und Wunsch der Kirche, der die Verehrung der heiligen Anna versäumt oder gar verachtet?

 

 

Ein kirchlicher Schriftsteller der Vorzeit sagt: "Die Menge derjenigen, die von jeher die heilige Mutter Anna hochgeschätzt und verehrt haben, ist unzählbar." Unter dieser Zahl befinden sich große Heilige, wie ein heiliger Augustin, ein heiliger Hieronymus, ein heiliger Epiphanius, ein heiliger Cyrillus von Alexandria, ein heiliger Johannes Damaszenus, ein heiliger Thomas von Aquin, eine heilige Theresia von Avila, eine heilige Coletta, eine heilige Brigitta und viele andere auserwählte Diener und Dienerinnen Gottes. Von der heiligen Jungfrau Coletta wird erzählt, dass sie die heilige Mutter Anna in allen Nöten um ihre Fürbitte angerufen habe. Sie hat aber auch, wie sie selbst erkannte, auf die Fürsprache der heiligen Anna von Gott viele und große Gnaden erlangt, darunter auch die Gnade, dass sie fünf Personen vom Tod wieder zum Leben erweckt hat. Als Coletta im Jahr 1447 den sechsten März zu Gent in Flandern mit Wunderzeichen leuchtend starb, empfahl sie sich nebst Jesus und Mariä auch der heiligen Mutter Anna. Die heilige Brigitta von Schweden trug nächst Jesus und Mariä zur heiligen Anna die größte Liebe und Verehrung. In all ihrem Tun und Lassen empfahl sie sich ihrem mütterlichen Schutz, und hatte sie ein Anliegen, nahm sie zu ihrer mächtigen Fürbitte die Zuflucht.

 

Die Heiligen, nicht zufrieden damit, dass sie selbst der Verehrung der heiligen Anna mit größtem Eifer zugetan seien, waren auch bestrebt, durch Wort und Schrift der Vermehrung und dem Dienst dieser Heiligen bei den Christen aller Stände Eingang zu verschaffen. So hielt der heilige Augustin alljährlich am Fest der Heiligen eine Lobrede, in der er mit dem Feuer seiner Beredsamkeit die zahlreichen Zuhörer zur Verehrung und Anrufung der heiligen Anna ermunterte. Der heilige Johannes Damaszenus, unstreitig der beredtste Lobredner der heiligen Anna, fand nicht genug Worte, um seinen Eifer für ihre Ehre an den Tag zu legen, und die Herzen seiner Zuhörer für ihren Dienst zu gewinnen. Ebenso setzten auch ein heiliger Epiphanius, ein heiliger Hieronymus, ein heiliger Germanus u.v.a. ihren Eifer darin, die Verehrung der heiligen Anna zu verbreiten. Selbst Päpste, wie Gregor XIII., Gregor XV., Urban VIII. empfahlen den Gläubigen die eifrige Verehrung unserer Heiligen aufs nachdrücklichste. Ein berühmter Prediger der Vorzeit suchte seine Zuhörer für die Verehrung der heiligen Anna dadurch zu gewinnen, dass er sagte: "Ich habe niemals gesehen, dass ein andächtiger Verehrer der heiligen Mutter Anna von Gott jemals wäre verlassen worden. Darum lasst uns diejenige, die Gott von Ewigkeit her wohlgefallen hat, zu unserer Fürsprecherin erwählen, und täglich mit gebührendem Lob erheben, denn es ist unmöglich, dass sie, wenn sie für uns, ihre Diener, bittet, von Gott nicht erhört werde."

 

Wenn nun so viele große Heilige und andere durch Frömmigkeit und Gelehrsamkeit ausgezeichnete Personen die heilige Mutter Anna mit so zärtlicher Liebe und Verehrung zugetan und für die Ausbreitung ihres Dienstes so beeifert waren, sollen dann nicht auch wir, in ihre Fußstapfen tretend, uns der Verehrung und dem Dienst der heiligen Anna mit großem Eifer ergeben? Niemand kann dies bezweifeln.