Das Standbild "Notre Dame de France" bei Le Puy
(Nach einer Schilderung von Dr. H. E. Richter)
Die Stadt Le Puy in Frankreich, welche die Hauptstadt des früheren Landes Belay oder der südlichen Auvergne, jetzt des Departements der oberen Loire ist, liegt auf einem flach-pyramidalischen Berg terrassenförmig aufsteigend, inmitten eines doppelten Kessels erst niedriger, dann höherer Berge, beide stellenweise mit vulkanischen Kegeln oder scharf abgeschnittenen Lava-Felsen besetzt. Der Gipfel des Berges ist seit mehr als tausend Jahren ausschließlich zu religiösen Zwecken von der Geistlichkeit benutzt, welche daselbst eine Menge von Kirchen, Klöstern, Hospitälern usw. inne hatte und noch hat. Den unteren Berg und seinen Fuß nimmt die handel- und gewerbetreibende Bürgerschaft ein. Beide Stadtteile sind seit alten Zeiten in Sitten, Rechten und Ansprüchen, oftmals sehr scharf, geschieden gewesen. Eine große Kathedrale krönt den Gipfel. Aber hoch über den Türmen derselben ragt noch eine grauschwarze vulkanische Felsmasse empor, der "Felsen oder Dyck von Corneille" genannt, welche eben den Namen "Le Puy" veranlasst hat. Eine andere solche Felsmasse oder Dyck, noch grotesker und völlig zuckerhutähnlich geformt, ragt unterhalb des Berges aus einer Vorstadt empor und ist mit einer dem heiligen Erzengel Michael geweihten Kirche geziert, woher sie den Namen "Aiguille de St. Michel" erhielt.
Der näher um die Stadt herumziehende niedrigere Bergkreis ist zur größeren Hälfte mit Weinstöcken, mit zahlreichen Land- und Winzerhäuschen, malerisch bepflanzt, und an seinem Fuß schlängelt sich die noch kleine Loire. Auf der anderen Seite bilden Wälder, Felder, Villen, Dörfer usw. eine belebte Aussicht. Im Hintergrund sind dann die dunkleren höheren Berge mit ihren Kuppen. Das Ganze gibt daher, verbunden mit dem grotesken Anblick der schwärzlichen Felszähne oder Dycks, ein eigentümliches Bild, das sich nicht leicht beschreiben lässt.
Dasjenige aber, was neben diesen Naturschönheiten sofort den Blick des Reisenden auf sich zieht und dauernd fesselt, ist ein Werk der katholischen Frömmigkeit, nämlich ein riesengroßes Standbild, welches auf der Spitze des oben genannten "Dyck von Corneille," also hoch über allen Kirchtürmen in den Himmel hinaufragt. Dieses ist die Riesenstatue der glorreichen Himmelskönigin Maria, seit dem 26. September 1859 dort oben aufgerichtet, weit und breit im Land als "Notre Dame de France, Unsere Frau von Frankreich," berühmt und verehrt, und in künstlicher und kulturgeschichtlicher Hinsicht merkwürdig.
Der erste, welcher die Idee eines solchen Werkes öffentlich aussprach, war Abbé Combalot, der in einer am 27. Juli 1850 zu Puy gehaltenen Predigt darauf aufmerksam machte, wie schön sich auf dem kahlen, vordem als Festungswerk benutzten Felsenkegel "Corneille" eine Statue der allerseligsten Jungfrau und Muttergottes Maria ausnehmen würde. Der Bischof von Puy, Herr von Morlhoe, ergriff mit Tatkraft diesen Gedanken. Er ernannte am 5. März 1852 eine Kommission aus den angesehensten Bürgern der Stadt, um das Unternehmen zu prüfen. Dasselbe wurde gebilligt, Geld zusammengeschossen, Preise für die besten Modelle ausgesetzt, und ein Aufruf an alle Künstler Europas erlassen. Darauf hin wurden 54 Modelle eingesendet: aus Paris, Neapel, Brüssel, Köln, Speyer, Straßburg, Lyon usw. Den ersten Preis erhielt der Bildhauer Bonnassieux aus Paris, den zweiten Rimm aus Speyer, die folgenden vier Montagny, Ramus, Fabisch und Lavigne. Also unter sechs Belohnten auch zwei deutsche Künstler. Bonnassieux's Entwurf wurde zur Ausführung gewählt.
Indessen hatte der Bischof einen Aufruf zu Beiträgen an alle Gläubigen erlassen und selbst 10.000 Francs gezeichnet. Der Kaiser Napoleon III. war der nächste Subscribent. Er zeichnete für sich und die Kaiserin 12.000 Francs, bemerkte aber nebenbei sehr richtig: "es werde zu kostspielig und langaussehend werden, wenn man das Werk in Bronce aufführen wolle; auch sei dieses Metall zu wertvoll, daher z.B. in Kriegs- oder Revolutionszeiten der Plünderung ausgesetzt; er schlage darum Gusseisen vor und werde für das Metall sorgen." Wirklich schenkte er der Stiftung unterm 20. April 1856 eine Masse von den inzwischen bei Sebastopol eroberten eisernen Kanonen, 150.000 Kilogramm (= 300.000 Zollpfund) an Gewicht, zur Ausführung. Die Unterzeichnungen nahmen einen um so rascheren Gang, da das Denkmal - im Sinne seiner Stifter - zur Verherrlichung des am 8. Dezember 1854 von dem Papst Pius IX. feierlichst verkündeten Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mariä dienen sollte. Bald überstieg die Summe der Beisteuer 300.000 Francs, wovon ein Drittel allein aus dem Departement der oberen Loire einging. So opferwillig erwies sich die fromme Begeisterung für die Ehre und den Preis der unbefleckt empfangenen Gottesgebärerin, die ja der Trost und die Hilfe der Christen ist.
Am 16. Mai 1856 schloss die bereits erwähnte Kommission einen Vertrag mit einem der größten Eisengießer Frankreichs, Herrn Prenat zu Givors bei Lyon, wodurch derselbe sich verpflichtete, für eine Summe von 190.000 Francs (etwa 50.000 Taler) die Statue zu formen, zu gießen und auf dem Felsen "Corneille" aufzustellen. Am 15. September desselben Jahres schickte Bonnassieux sein zwei und zwei Drittel Meter hohe Modell ein. Nach diesem ward die Riesenstatue erst in Ton bis in die feinsten Einzelheiten ausgeführt; über den Ton ward dann eine Gipsmasse geschlagen, alsdann der Ton herausgegraben und so eine gipserne Hohlform gewonnen, in welche wieder Gips gegossen wurde. Letztere stellte nun das eigentliche Modell (40.000 Kilogramm = 80.000 Zollpfund schwer) dar, welches nach abermaliger sorgfältigster Ausarbeitung jeder Einzelheit in so viel (etwa hundert) Teile zersägt wurde, als einzelne Stücke gegossen werden mussten; darüber machte man wieder Hohlformen, und in diesen geschah die Vollziehung des Gusses. In allen diesen Operationen musste die größte Umsicht und Genauigkeit angewendet werden, wenn nicht das Ganze verunglücken sollte. Fast noch mehr Schwierigkeiten veranlasste der Transport dieser ungeheuren Eisenmasse nach Puy und auf den Felsen hinauf. Riesige Gerüste mussten errichtet, gewaltig kräftige Maschinen in Gang gesetzt werden, um solche kolossale Massen aus dem Abgrund hinan auf die schwindelnde Höhe längs der zackigen Felswandungen emporzuziehen. - Der steinerne Sockel, auf welchen die Statue zu stehen kam, war indessen durch eine Sou-Steuer der in den Schulen der "Doctrine chrétienne de la France" unterrichteten Kinder aufgebaut worden. Derselbe hat sieben Meter (zehn und eine halbe Elle) Höhe und kostet 15.000 Francs, was also, da jedes Kind nur vier Pfennige beisteuerte, auf eine Zahl von 300.000 Kindern hinweist, welche dem Orden anvertraut sind.
Das Standbild ist eines der lieblichsten Erzeugnisse der modernen Plastik. Dasselbe stellt die unbefleckt empfangene Jungfrau und Muttergottes mit dem göttlichen Jesuskind auf dem Arm dar, welches letztere segnend seine Hand über das Land ausstreckt. Das gesamte Denkmal macht einen Eindruck von Majestät, Festigkeit, Milde und Ruhe. - Um von dem Größenverhältnis einen Begriff zu geben, dienen folgende Angaben. Die gesamte Statue wiegt 80.000 Kilogramm (= 160.000 Zollpfund) an Gusseisen; das Jesuskind allein 13.000 Kilogramm (= 26.000 Zollpfund). Die ganze Statue ist sechzehn Meter (= 24 preußische Ellen) hoch, also fast ebenso groß, wie die Bavaria bei München (= 26 Ellen), aber kleiner als die Statue des heiligen Carolus Borromäus bei Arona am Lago maggiore (= 33 Ellen). Sie ist innen hohl und mittelst einer Wendeltreppe, die durch einzelne Fensterchen erleuchtet ist, zu besteigen. Der Vorderarm, welcher das Jesuskind trägt, ist drei und drei Viertel Meter Lang; in seiner Höhlung können drei Männer der Länge nach, d.h. Kopf an Fuß, liegen. Wir standen drei Herren neben einander in dem Kopf, mit den Füßen oberhalb der Augenbrauen, und schauten über die stark vergoldete Krone, deren Spitzen aus Platin als Blitzableiter dienen, in das von solchem Standpunkt besonders herrliche Panorama hinaus, hoch wie Adler in der Luft schwebend.
Am 29. Juni 1859 waren die ersten Gussstücke aus Givors in Le Puy eingetroffen, und schon am 26. September desselben Jahres konnte die Enthüllung und Einweihung des Standbildes, welches den Namen "Notre Dame de France, Unsere Frau von Frankreich" trägt, stattfinden.
Die Geistlichkeit von Le Puy und ihr Zusammenwirken bei dieser Verherrlichung der gnadenreichen Himmelskönigin gibt uns ein erhebendes Zeugnis, wie groß ihre Liebe und Andacht zu Maria ist. Bewundern muss man die bienenhafte Betriebsamkeit, mit welcher der Klerus das Werk der "Notre Dame de France" ergriffen, gefördert und binnen wenig Jahren ausgeführt hat. Der Höchste und der Niedrigste, der Priester und der Diakon, der Welt- und Ordensgeistliche, wie ihre Diener- und Laienschaft, haben brüderlich und opferwillig und unermüdet dem gemeinsamen Zweck gedient, geschickt einander die Hände geboten und ohne persönlichen Vorteil zusammen gearbeitet. - Was bewegt diese Leute dazu? Was befähigt sie zu solchen Anstrengungen und Erfolgen? Gewiss kein Machtgebot, sondern der Glaube und der Geist der Genossenschaft (esprit de corps), der in dem Gottmenschen Jesus Christus, dem Welterlöser, auch die gebenedeite Miterlöserin, die neue Eva, seine Mutter und die Königin der Engel und aller Heiligen, verehrt, die - als die unbefleckt Empfangene und allzeit unbefleckt Gebliebene - zugleich auch die Zuflucht der Sünder ist.
Dem hochheiligen Dogma von der unbefleckten Empfängnis Marias hat der Klerus von Le Puy in diesem wundersam schönen Standbild auch eine sichtbare Verklärung gegeben. -