Marienlegenden deutscher Landschaften

 

Teil 1

 

Teil 2

 

Von August Straub

 

Kleine Historische Monographien Nr. 44 / 48 - 1933 / 1935

 

 

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Die Legende

 

Die Legende ist eine besondere Art der Volkssage, wenngleich sie in großen Teilen dem Märchen und gar der Kunsterzählung nahe steht oder solche ist. Aber die Legenden, von denen der Hauptteil dieses Werkes (vorzüglich Teil 2) spricht, sind Volksdichtungen. Entstanden seit der Einführung des Christentums durch das Eindringen christlicher Anschauungen.

 

Diese Legenden sind Erinnerungen, Erlebnisse und Deutungen des Volkes, zu Kunstwerken seiner Sprache verdichtet, in denen die Muttergottes gestaltet ist. Sie gehören zu den allerschönsten Blüten, die das fromme Gemüt und die malerische Anschaulichkeit der Sprache überhaupt hervorgebracht hat.

 

Vorbild in gestalterischer und wunderbarer Beziehung wurde die Erzählkunst aus den Schatzkammern des Orients. Das deutsche Volk wandelte in den Kinderschuhen seines neuen Glaubens, war des Staunens voll über die Prächtigkeit, mit der er sich vor seinen naiven Augen ausbreitete.

 

Bald aber erwachte das Schaffen des eigenen Gemütes wieder. Die Bräuche und Vorstellungen der Bauern, Hirten und Jäger aus alter Zeit waren nicht tot. Sie drangen in die neue Vorstellungswelt ein. Zuviel Ähnliches barg das Christentum, war gleichsam die Vollendung der vorhanden gewesenen Glaubenskeime. So wurden die Gestalten des neuen Glaubens mit der Einbildungskraft des alten vielfach angezogen. Und aus dem Reingehalt des Christentums und dem Volkstum des jungfräulichen Landes blühten jene urwüchsig schönen, je nach Stamm und Boden verschieden gearteten Marienlegenden deutscher Landschaften auf, denen unsere Liebe gehört.

 

Das Widerspiel der Kräfte und Beteiligten, Priesterschaft, Fahrender, alten Glaubens und Predigt der Bettelorden, der staufischen Kaiserherrlichkeit und der Kunst, schließlich Orients und Okzidents, zu beobachten, ist eine der reizvollsten Beschäftigungen deutscher Literatur- und Geisteskunde überhaupt. Denn schließlich erblüht aus allem Ringen und Wachsen dasjenige auch in der Legende von Unserer Lieben Frau, was wir als das eigentlich Deutsche heute ansprechen, und wonach wir uns gerade aus unserer Zeit der Verwirrung und Verwischung so sehnen. Außerdem erleben wir in den Legenden die Geburt der Mariengestalt aus der Seele des persönlichen deutschen Menschen.

 

Man hört vielfach die Meinung, dass die Marienlegende abgestorben sei mit dem Ausgang des Mittelalters und im Heraufziehen der gewaltigen inneren und äußeren Kämpfe, die die ersten Jahrhunderte der Neuzeit ausfüllten, ja bis heute nicht zum Schweigen gekommen sind. Das ist grundfalsch. Gerade im 16. und 17. Jahrhundert erblüht die volkstümliche Mariendichtung kräftig, und was wir seit der Aufrüttelung der Romantik an Legenden aus dem Volkstum zu sammeln vermochten, ist zu allermeist natürlich allerältestes, aber durch die umbildende, schmückende, verzerrende Tätigkeit des Volkes abgewandeltes, in diesen Jahrhunderten erst in die vorliegende Form gewachsenes Gut. 

 

Auf diesem Nährboden und dem jung erwachten Glauben gestalteten dann Dichter unserer Zeit, bekannte Künstler, mit dem Mittel der Sprache die neue Muttergotteslegende, Dichtungen, die wir als die tiefsten Brunnen in unserer so oft und ganz mit Unrecht als seelenlos verschrieenen Zeit ansprechen dürfen. 

 

Viele fragen: Ist das Erzählte wahr, tatsächlich? Oftmals der Kern der Legende ja, besonders dann, wenn sie an geschichtlichen Persönlichkeiten oder an Bauwerken sich emporwindet. Aber auch da ist sie Rankenwerk des frommen Gemüts. Viele andere sind Dichtungen aus dem Mythos, jenseits von Raum und Zeit in der höheren Welt spielend. Und vielfach ist das Märchen eingedrungen. Es spielt überall und nirgends. Seine Gestalten leben auf der Erde, aber die Begebenheiten liegen in der Welt des Wunders. Das Wunderbare aber ist der Atem der Legende, wie aller Poesie.

 

Ihr Verständnis zur Religion: Die Poesie ist eine Begleiterin der Religion, nie sie selbst, wenngleich sich in ihr religiöse Kraft offenbart. Sie verschönert das Heiligtum.

 

Geleitet und beschirmt im täglichen Schaffen wie in den Nöten des Daseins, in Hunger und Sünde, Krankheit und Tod, stand der Mensch der glücklichen marienbegeisterten Jahrhunderte unter der Muttergottes, war die Gemeinschaft der Menschen unter ihrem Mantel geborgen. Das alles spiegelt sich in den Legenden der Blütezeit herrlich wieder. Wenn wir diese Geschichten hören, tun wir einen Blick in die Tiefe des einfältigen deutschen Gemüts. Denn nicht was einzelne Gebildete ersannen und erfühlten, haben wir vor uns, sondern den dichterisch gestalteten Ausdruck dessen, was das ganze Volk des Mittelalters dachte, liebte, vertrauensvoll verehrte. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wie diese Gemeinschaft zerbrach. Nehmen wir ihren Untergang als das Verhängnis des Schicksals, das letzten Endes über allem Menschenwerk waltet. Aber die Altäre und Bildwerke der Muttergottes stehen noch, zumal im katholischen Land, und sind verehrt.

 

Je unbeholfener oftmals ihre Sprache, desto reizvoller scheinen die Legenden in dem naiven Wollen, die Schönheit der Muttergottes zu preisen. Alles, was die Liebe eines Herzens ersinnen kann, wird Maria zugeschrieben. Mit aller erdenklichen Einbildungskraft gab das Mittelalter und der in ihm wurzelnde Glaube der Folgezeit sich dem reichen schönen Gegenstand hin und kargte nicht mit Lob.

 

Wir brechen die Legenden wie Blumen, wo wir sie finden. Wo sie noch da sind, leben sie so, dass man nicht wunders Aufhebens von ihnen macht. Dem ist gut so. Man weiß sie und liebt sie. Das ist genug. Und wo wir sie sehen, freuen wir uns der Reinheit ihrer unvergänglichen Poesie. Denn sie haben gleichsam Augen so unschuldig und in sich zufrieden schön wie die Margaretenblumen auf den sommerduftigen Wiesen oder die Himmelssterne.

 

Die lehrhaften Stücke und Predigtmärlein, die dem heutigen Empfinden nicht mehr entsprechen, haben wir weggelassen. Wir meinen nämlich, dass die Legenden gerade dann auch religiös am stärksten wirken, wo sie schlicht erzählt sind und ihr Wundergeschehen ganz unschuldig und einfach zu uns spricht. So wollen wir, ohne Lehrgedanken zu hegen, dass unsere Sammlung nicht bloß der Geschichte dieser liebreizenden Dichtungsart diene, sondern, wo ihre köstliche Poesie erfreut, die Sammlung auch ein Lebensbuch werde. 

 

Wo man in der Gestalt der Gottesmutter, wie unsere Legenden sie zeigen, diesen oder jenen Zug nicht schätzen zu können glaubt, so nehme man an, dass wir die Reinheit in dem Wahren suchten. Mit keinem anderem können wir diese gebrachten Legenden besser verteidigen, als mit dem Hinweis auf die Natur, der Landschaft und des Volksgemüts selber, die sie wie Blumen hat wachsen lassen.

 

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