Zorn

 

(von Leopold Kist, Pfarrer zu Stetten in der Erzdiözese Freiburg, 1863)

 

In der heidnischen Götterlehre wird uns erzählt: am Eingang zur Unterwelt hielt ein furchtbarer Hund Wache, Cerberus mit Namen, der drei Köpfe, einen Schlangenhals und einen Drachenschweif hatte. Er war an viele Ketten gefesselt und brüllte so entsetzlich, dass das ganze Schattenreich davor erzitterte. Lieber Leser, kennst du kein, diesem Hund ähnliches, Ungeheuer? Ist nicht der Zorn ein Kettenhund, der jeden grimmig anfällt und, wenn er beikommen kann, ihn beißt und zerreißt. Ein Kettenhund der bellt und heult und mit der Kette rasselt, und weder Lebenden noch Toten Ruhe lässt? Ja, der Zorn ist ein grimmiges Ungeheuer, das sich und andere anfällt, beißt, verwundet, erwürgt und zerreißt. Der heilige Chrysostomus sagt: „Nicht nur den Körper richtet der Zorn zugrunde, sondern er zerrüttet auch die Gesundheit der Seele, zernagt, zerfleischt, verheert ihre Kräfte und macht sie zu allem untüchtig. Kann einer, der Würmer im Leib hat, nicht einmal Atem schöpfen, da alles in seinem Innern zerfressen ist, wie können wir, mit einer solchen Schlange in der Brust, die unser Innerstes zerfrisst, ich meine den Zorn, irgendetwas Edles leisten? . . . Kein Löwe, keine Schlange kann die Eingeweide so zerreißen, wie der Zorn, der gleichsam mit eisernen Klauen alles zerfleischt, denn er schadet nicht nur dem Körper, sondern er zerstört auch die Gesundheit der Seele.“

 

Der Zornige ist immer ein Thor, zuweilen sogar ein Narr

 

Der heidnische Weise Kato hat gesagt: „Der Zornige ist vom Narren nur durch die Zeit unterschieden.“ Die Narrheit des Verrückten dauert nämlich lange Zeit, die Narrheit des Zornigen jedoch geht gewöhnlich schnell vorüber. Dasselbe behauptet auch der heilige Martinus. Er sagt: „Zwischen einem Zornigen und einem Wahnsinnigen ist nur der Unterschied: der eine (der Zornige) zürnt nicht immer, der andere aber (der Wahnsinnige) rast immer.“ Und ist es nicht wahr? Hat der Zornige seinen Anfall von Zorneswut und Raserei, so unterscheidet er sich von dem Verrückten, Wahnsinnigen, Rasenden und Tobsüchtigen durch gar nichts. Und wozu solche Raserei? Wer bist du, dass du so rasest und tobst? Wie ist dein Verhältnis zu Gott? Bist du nicht abhängig von ihm? Bist du nicht sein Diener, sein Untertan, sein Knecht, sein Werkzeug? Wie der Ton in der Hand des Töpfers, so ist der Mensch in Gottes Hand. Bist du nicht ein schwaches, ohnmächtiges Geschöpf, ein Wurm, der im Staub kriecht, eine Handvoll Staub, den der Wind verweht? Was willst du also dich auflehnen und empören gegen seinen allmächtigen Schöpfer? Bist du nicht ein armer Sünder, verfallen der Gerechtigkeit Gottes? Was willst du also selbst den Himmel zum Zweikampf herausfordern? Bist du nicht ein Christ, der mit seinem Meister und Herrn sprechen soll: „Nicht wie ich, sondern wie du willst, nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“?

 

Und was nützt dir dein Zorn, deine Heftigkeit und Erbitterung? Vermagst du durch deinen Zorn dem Lauf der Gestirne Einhalt zu tun, gegen die Weltordnung, gegen die Naturgesetze und die Vorsehung Gottes anzukämpfen und gegen den Strom zu schwimmen?