Lüge, Meineid, Eidbruch und falscher Eid

 

(von Leopold Kist, Pfarrer zu Stetten in der Erzdiözese Freiburg, 1863)

 

Man hat es schon weit gebracht im Rechnen. Man hat berechnet, wieviel Sterne beiläufig am Himmel sind, wie viel Schulden alle Potentaten in Europa haben, und ich meine fast, es seien deren so viele Millionen, Billionen, Trillionen und -illionen ohne Ende, dass man ganz Europa mit den passiven Eurostücklein dieser fabelhaften Schuld zudecken könnte. Man hat die Entfernung der Sonne von den übrigen Gestirnen und den Lauf der meisten Kometen berechnet, allein davon ist mir noch nichts zu Ohren gekommen, ob ein Rechnungskünstler auch schon die Lügen berechnet hat, die in einem einzigen Tag zu Tage gefördert werden. Ich wäre begierig, ihre Zahl zu wissen. Ob man sie aussprechen könnte, weiß ich nicht. Wenn aber im Himmel ein Buch liegt, in das jede Lüge der Sterblichen eingetragen wird, so haben etliche Legionen Engel täglich, den Sonntag nicht ausgenommen, vollauf zu tun, um in der himmlischen Revisions- und Kontroll-Kanzlei all die produzierten Lügen zu notieren.

 

Wie viel Lug und Trug ist in der Welt! Es wird gelogen, dass sich die Balken biegen, dass es einem schwarz vor den Augen wird. Wo ist noch Glauben und Vertrauen, Wahrheit und Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Treue! Wie viel Scherz- und Spaßlügen, wie viel Not- und Verlegenheitslügen, wieviel Dienst- und Amtslügen, wie viel Pflicht- und Schuldigkeitslügen! Wie viel gedruckte und ungedruckte Lügen, wie viel Lügen in Schule und Haus, auf Kanzleien und in Kaufläden, auf dem Markt und in Wirtshäusern, in Kammern und Schwurgerichtssitzungen, in Büchern und Akten, in Briefen und Verträgen, im Handel und Wandel, bei Kauf und Verkauf! Es gibt gewisse Zeitungen, die eigentlich nichts anderes, als Lügenfabriken sind, die täglich gewerbs- und handwerksmäßig lügen. Wenn nun solch ein Lügenblatt täglich in zehntausend Exemplaren erscheint (und leider haben die Lügenblätter den stärksten Absatz und sind die Lieblingsblätter und Schoßkinder des Publikums) und per Exemplar in Familien, Lesevereinen, Zirkeln und Wirtshäusern von zehn Personen täglich gelesen wird, so wird es täglich hunderttausendmal gelesen. Steht nun eine einzige Lüge darin, so wird diese Lüge in einem Tag mindestens verhunderttausendfacht, und bringt solch ein Blatt täglich eine Lüge, so lügt es in einem Jahr wenigstens 36.000.000-mal, sage: sechsunddreißig Millionen Mal. Nun lügt solch ein Blatt aber in jeder Nummer mindestens zehnmal. Und solcher Blätter sind es schon in Deutschland unzählige. Was wird also nur von den täglichen Blättern gelogen! Und diese Blätter sind das gewöhnliche Futter des Publikums. Da ist es freilich kein Wunder, wenn die Welt durch und durch verlogen ist, wenn alles auf Schwindel und Lüge beruht, wenn man eine Diogeneslaterne braucht, um einen ehrlichen, wahrheitsliebenden Menschen zu finden.

 

Der Weltweise Diogenes

 

war schon zu seiner Zeit der Ansicht, dass es wenig Menschen gäbe, d.h. Geschöpfe, die den Namen „Mensch“ verdienen, die verständig, vernünftig und weise sind, die nach Besserung und Vervollkommnung ringen, die der Welt Torheit und Eitelkeit verachten, ihr Seelenheil pflegen und nach dem Himmel ringen. Um diese seine Überzeugung auszudrücken, zündete er am hellen Tag eine Laterne an, ging auf den Markt und suchte eifrig überall umher. Verwundert fragte man ihn: „Was suchst du am hellen Tag mit der Laterne?“ Er antwortete: „Ich suche Menschen.“ – So bräuchte man heutzutage wahrlich auch eine Laterne, um Menschen zu finden, die nicht lügen. Nur ein ganz kleines Häuflein, eine Handvoll Menschen dürfte noch übrig sein, die nicht lügen, die unter keiner Bedingung lügen, die das Lügen für Sünde halten. Weitaus die meisten machen sich aus dem Lügen durchaus kein Gewissen, lügen mit lachendem Mund, lügen so fein und kunstgerecht, wie wenn sie beim Vater der Lüge in der Hölle in die Lehre gegangen und bei ihm das Meisterstück im Lügen gemacht hätten. Ja selbst Personen von gutem Ruf, Personen, die Anstand und Bildung haben und den höheren Klassen angehören, halten das Lügen für keine Sünde, finden das Lügen für etwas Natürliches, Selbstverständliches, Heilsames und, unter Umständen, Notwendiges. Sie meinen: wenn es niemand schadet, dürfe man lügen, eine gute Lüge sei wohl viel wert. Sie meinen: man könne und dürfe auch nicht immer die Wahrheit reden. Es sei oft sogar Pflicht und Schuldigkeit, zu lügen, und jedenfalls sei das Lügen keine Sünde, wenn man im Dienst, im Amt, aus Gehorsam lügt, und obendrein sei das Lügen noch ein großer Verdienst, wenn man durch das Lügen sich oder anderen nützen, sich aus der Falle winden und aus der Patsche ziehen kann. Einem einen Bären aufbinden, einen blau anlaufen lassen, einen zum Besten halten, einen über den Löffel barbieren, einen am Narrenseil herumführen und Schabernack mit ihm treiben, einem Sand in die Augen streuen und „blinde Kuh“ mit ihm spielen, das ist ohnehin ein Pfifferling und fällt bei ihrer Wage nicht ins Gewicht. Behaupte ich zu viel? Sei ehrlich und gib der Wahrheit das Zeugnis! Bist du nicht schon unzählige Male angelogen worden, bist du nicht sehr vorsichtig und misstrauisch den Versicherungen anderer gegenüber, hast du nicht schon schweres Lehrgeld bezahlen müssen, wurdest du noch nie betrogen, hintergangen, überlistet, und hast du selbst noch nie gelogen?

 

Diesem Lügengewebe tritt nun Gott entgegen mit seinem VIII. Gebot, das da heißt: „Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten!“ Und über diesem Gebot Gottes steht keine Appellations- oder Oberappellationsbehörde, da findet kein Rekurs statt, diesem Ausspruch Gottes gegenüber gibt’s kein Aber und Wenn, kein wär´ ich und hätt´ ich, keine Ausnahmen, keine Einwendungen und Widerlegungen. Wir dürfen höchstens fragen: warum rechnet uns Gott das Lügen zur Sünde an, warum sollen wir nicht lügen? Diese Frage nimmt uns Gott nicht übel, und darum wollen wir sie stellen und, so gut wir können, beantworten.

 

Nach einem allbekanntem Naturgesetz sehen die Kinder ihrem Vater oder ihrer Mutter ähnlich, und nach demselben Gesetz der Natur und des Geistes, der Abstammung, des Zweckes und der Bestimmung sollen wir Gott ähnlich sehen. Der Lügner sieht aber Gott so wenig ähnlich, als ein Afrikaner dem Königreich Sachsen, wo die schönen Mädel wachsen, als ein Tintenfisch einem Tintenglas, als Charlottenburg bei Berlin einer Charlotte im Garten, und Hammelburg in Bayern einem Hammel.