Alkohol

 

(von Leopold Kist, Pfarrer zu Stetten in der Erzdiözese Freiburg, 1863)

 

Gott Lob, dass wir diese unheimlichen Gestalten hinter uns haben, diese Griesgrame von Geizhälsen, diese Kobolde mit den feurigen Augen, die Tag und Nacht ihre Schätze bewachen, diese hageren, mageren, finsteren Figuren, bestehend aus einem Knochengerüst, über das gelbe Haut gespannt ist, und die wie Spinnen, mit langen Fingern, stets im Netz sitzen, zum Fang bereit. Gott Lob, dass wir sie hinter uns haben diese von Wollust verzerrten, grinsenden Gesichter, diese ausgezehrten, ausgemergelten Jammergestalten, diese geilen Affen, ohne Scham- und Ehrgefühl, deren ganzes Dichten und Trachten einzig auf Fleisch und Sinnlichkeit gerichtet ist. Gott Lob, dass wir aus ihrer Umgebung und Gesellschaft sind, und zweimal: Gott Lob, wenn unsere Belehrung und unsere Mahnung, unser Zuspruch und unsere Drohung, unser Rat und unser Rezept heilsam bei ihnen gewirkt, viele von ihnen gewonnen, geheilt und gerettet hat. Nun führt uns unser Weg zu anderen Patienten, zu Patienten, bei denen es doch lustig zugeht. Heisa! Da wird gesungen, gejodelt, musiziert und getanzt, da ist eine Freude und ein Leben, alles wohlauf und kreuzfidel. Da fließt der goldene Wein in Strömen, da knallen die Champagnerflaschen, da klirren die Gläser, da werden Reden gehalten voll Feuer und Geist, gegen Finsternis und bigottes, tyrannisches Wesen, da wird bravo und hoch gerufen, dass die Erde zittert. Da fliegt das Geld, da ist das goldene Zeitalter, da wird Brüderschaft getrunken, und fallen alle einander an das wallende Herz und küssen einander mit lallendem Mund. Heisa! Da geht es lustig zu, da wird gelebt, wie die Vögel im Hanfsamen! Wollen wir uns nicht unter diesen lustigen Vögeln niederlassen? Da singt ein aufgeräumter Kumpan: „Ich und mein Fläschlein sind immer beisammen, und niemand verträgt sich so gut als wie wir“ usw., gewiss eine schöne, friedliche Seele! Hier schmettert ein Corps gestylter Studenten hinter dem schäumenden Bierglas das Lied: „Gaudeamus igitur“. Dort krächzt ein blasses, hageres Männlein mit blauangelaufener Nase: „Schnaps, Schnaps, Schnaps, du edles Getränke“, wenn er aber sich erhebt, so macht er allerlei sonderbare Ränke und Schwänke, bis er zur Tür gelangt. Um jenen Tisch sitzt eine illuminierte Gesellschaft, die das Lied jolt: „Wir sitzen so fröhlich beisammen und haben einander so lieb“. Lauter edle Herzen, die von Liebe überströmen! Um einen anderen Tisch hat sich eine Kompanie gelagert, die in schrillen, Mark und Bein durchdringenden Tönen, das Lied herunterreißt: „Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann, juhe!“ usw. Sämtlich brave, wackere Männer, denn alles ist bereits benebelt und teilweise hagelvoll. Ganz im Hintergrund brüllt eine bunte Schar:

 

„Zum Zipfel, zum Zapfel, zum Kellerloch nein,

Alles muss versoffen sein,

Strümpf und Schuh, Strümpf und Schuh,

Wir laufen dem Teufel barfuß zu!“

 

O weh! Also das ist das Ende vom Lied: „wir laufen dem Teufel barfuß zu!“ Hat der Teufel auch hier die Hand im Spiel, ist es auch hier nicht koscher, und müssen wir auch hier ein Haar in der Schüssel finden!

 

Ja, wir haben hier aus der Ferne bloß die Außenseite gesehen und von weitem lustigen Sang gehört, und das hat uns getäuscht. All das Singen und Springen, die Heiterkeit und Fidelität, das Musizieren und Beschwören, der Taumel und Schwindel, der Goldregen und die schäumenden Becher, die Verbrüderung und Zärtlichkeit der Lumpen – das nimmt ein klägliches, schmähliches Ende, denn sie „laufen dem Teufel barfuß zu“, wie sie selber singen.

 

O Jammer und Elend! Wie konnte der Mensch, der vernünftige Mensch, doch auf solch widernatürliches Laster verfallen, und wie konnten diesem widernatürlichen Laster so viele, ach – so viele! – anheimfallen! So viele aus allen Ständen und Schichten der Bevölkerung, jung und alt, gebildet und ungebildet, gelehrt und ungelehrt, hoch und nieder, reich und arm, ledig und verehelicht! Wie viele sind es, die sich diesem Laster nie, auch nicht zeitweise, auch nicht ausnahmsweise, auch nicht bei besonderen Gelegenheiten und Anlässen ergeben? Deren sind es leider sehr wenige! Das Wirtshaus ist ein mächtiger, starker Magnet, der alles anzieht. Durst, viel Durst, ist eine Hauptpassion unserer Tage – alles lechzt nach Wein oder Bier oder Schnaps. Die Trunksucht ist ein allverbreitetes, tief eingewurzeltes, allbeliebtes Laster, so allgemein verbreitet, eingewurzelt und beliebt, dass man es für gar keine Sünde mehr hält, sich zu betrinken, dass man am hellen Tag betrunken durch die Gassen und Straßen schwankt, dass man beim Anblick Betrunkener lacht und an ihrem närrischen und tollen Wesen sich ergötzt, statt mit Abscheu und Ekel sich davon hinwegzuwenden, dass man sich seiner Räusche rühmt und sich mit ihnen groß macht und prahlt. Viele scheinen vom Trinken, d.h. vom vernünftigen, naturgemäßen Trinken gar nichts mehr zu wissen, sie haben das Wort: „Trinken“ gar nicht mehr im Gebrauch und es ganz verlernt und vergessen, denn statt „Trinken“ sagen sie eher „Saufen“. Vom Trinken wissen sie nichts, das Trinken kennen sie nicht und trinken können sie nicht, sie können und wollen nur saufen. Bei jedem Anlass, bei jedem Fest, bei jedem Ereignis, freudiger oder trauriger Art und Natur, muss gesoffen sein. Man führt künstlich und absichtlich Gelegenheiten herbei, man zieht Anlässe mit den Haaren herbei, um saufen zu können. Man hält steif und fest an allen alten Gebräuchen, wobei gesoffen wird, mögen sie auch sonst noch so unzeitgemäß und mittelalterlich sein. Das Trinken ist heutzutage ein eigenes Geschäft, ein tägliches Bedürfnis, das man künstlich hervorgerufen und sich angewöhnt hat und das man mit der größten Exaktheit befriedigt und besorgt, exakter als das tägliche Gebet, die Kindererziehung, und die Standespflichten. Manchem träumt es von nichts, als von einem guten Trinkgeld. Für ein gutes Trinkgeld geht mancher durchs Feuer. Man trinkt ohne allen Durst und über den Durst, man trinkt um Durst zu erzeugen, um ihn dann wieder stillen zu können, man trinkt etwa so, wie man einen Schwamm mit Wasser anfüllt, wieder auspresst, wieder anfüllt und so fort, bis der Schwamm in Stücke geht. Man trinkt, um zu trinken, man fühlt sich unglücklich, wenn man nicht trinken kann, wenn man keinen Durst hat, man hilft mit stark gewürzten Speisen nach, man verspeist Heringe, Sardellen und scharfen Käse und raucht kräftige Tabake, um ja trinken zu können, denn trinken, das ist das wahre Lebenselement, trinken ist der Zweck des menschlichen Daseins. Die Leber, die durstige, spielt die Hauptrolle im menschlichen Leben, „die Leber wächst mit ihren Aufgaben“, und – „wer gut getrunken, der stirbt gut“ – heißt es in einem Lumpenlied, und damit Punktum!

 

Die Deutschen sind unter allen Völkern als Generaltrinker bekannt, sie stehen in allen fünf Weltteilen in diesem Verdacht. Schon vor vielen hundert Jahren hat der heidnische Schriftsteller Tazitus, der im 1. Jahrhundert nach Christi Geburt lebte, und, was Sittlichkeit anbelangt, so Rühmliches von den Deutschen berichtet, sie aber, was das Trinken betrifft, für ewige Zeiten an den Pranger gestellt, indem er von ihnen schrieb, dass sie leidenschaftliche Trinker seien, ja selbst ihre persönliche Freiheit vertränken, d.h. sich selbst als Sklaven verkauften und vermittelst des Kaufpreises sich berauschten. Das Traurigste an dieser Geschichte ist aber das, dass sie wahr ist, und dass man deswegen den Deutschen überall als einen Trinker einschätzt. Wo könnte in Deutschland ein Fest gefeiert werden, ohne dass Wein und Bier in Strömen flösse, ohne dass Humpen und Becher, Räusche und „Katzenjammer“ die Hauptrolle spielten, ohne dass alles von A bis Z in allen Abstufungen vom Angetrunkensein bis zum totalen Rausch, über den Strang schlüge! Solch ein Bekenntnis tut freilich weh, und es ist sehr beschämend, sich zu solchem „Confiteor“ bekennen zu müssen, allein man ist der Wahrheit das Zeugnis schuldig. Dabei hätte es der Deutsche am wenigsten notwendig, sich zu berauschen, um seine Lebensgeister zu wecken, seinem Humor und Witz nach- und aufzuhelfen, sich zu begeistern und Mut und Feuer in geistigem Getränk zu suchen, denn an Geist und Herz, an Grütz und Witz, an echtem Schrot und Korn, an Mut und Kraft, steht doch der Deutsche wahrlich keinem Volk der Erde nach! Wenn ein anderes Volk schon so lange und schwer getrunken hätte, wie das deutsche, es wäre längst schon untergegangen. Nur ein Volk von so felsenfester Gesundheit und unverwüstlicher Natur kann so lange und schwer sich an ihr selbst versündigen.

 

Aber wir haben nicht bloß als vernünftige Menschen und als Deutsche, sondern auch als Christen zu kämpfen gegen das Laster der Trunksucht, als Christen, die da wissen, dass es schwere Sünde ist, das V. Gebot Gottes zu übertreten, die da wissen, welches die sieben Todsünden sind, und die sich vor ihnen hüten sollen, die da wissen und glauben, was Christus der Herr in der Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus erzählt, die da wissen und glauben, was die Heilige Schrift sagt von Völlerei und Trunksucht, dass nämlich kein Trunkenbold das ewige Leben erben kann, die befolgen, was der heilige Apostel Paulus befiehlt: „berauscht euch nicht mit Wein, worin Ausschweifung liegt“ Eph 5,18, die für ihre unsterbliche Seele sorgen und sie retten wollen, die Gottes Heilige vor Augen haben als Muster und Vorbilder, Heilige, die aber nicht mit Völlerei und Trunksucht Gott gedient haben, sondern mit Fasten, Enthaltsamkeit und Selbstverleugnung. Als Christen haben wir gegen dieses Laster zu kämpfen, als Christen, die nicht blind und taub sind gegen die schrecklichen Folgen, die dieses Laster unfehlbar nach sich zieht, und die man ja tagtäglich vor Augen sieht.