Auf der Wallfahrt zu Ehren Marias

Jeder Mensch empfindet ein natürliches Interesse, Stätten zu besuchen und zu besichtigen, an denen irgend etwas Wichtiges, z.B. eine berühmte Schlacht stattgefunden oder wo ein großer Mensch gelebt und gewirkt hat. Aus dieser Empfindung heraus haben schon in den ältesten Zeiten, besonders aber seit Kaiser Konstantin die Christen mit großer Vorliebe jene Stätten im Heiligen Land aufgesucht, die Jesus Christus durch seine leibliche Gegenwart heiligte und wo sich die grundlegenden Tatsachen der Erlösung vollzogen haben. Durch die Macht der sinnlichen Anschauung werden an solchen Orten die religiösen Erinnerungen und Vorstellungen und die Gefühle der Dankbarkeit zu höchster Lebhaftigkeit gesteigert und die Herzen zur Andacht und Liebe und zum Vertrauen entflammt.
In ähnlicher Weise führte die Verehrung für die großen Heiligen die Gläubigen bald auch zu den Stätten ihrer Wirksamkeit, zu ihren Gräbern, zu den Orten, wo ihre Überreste aufbewahrt wurden, und angefangen von den Gräbern der Apostelfürsten Petrus und Paulus bis zu denen der zahllosen lokalen Heiligen sind auf diese Weise in der ganzen Welt unzählige größere und kleinere Wallfahrtsorte entstanden.
Und noch ein dritter Grund für ihre Entstehung wäre anzuführen. Schon unsere heidnischen Vorfahren bevorzugten für ihre Opferstätten einsame Bergeshöhen, stimmungsvolle Waldgegenden und erquickende Quellen, denn ein tiefes und gemütvolles Naturgefühl, das auch im einfachen Volk lebendig ist und auch in der Urzeit schon vorhanden war, erfüllt auf einsamen Bergeshöhen und im geheimnisvollen Rauschen schattendunkler Wälder unser Herz mit einer eigentümlichen Weihestimmung, zieht es vom gewöhnlichen Alltag ab, macht es für ernste, für Ewigkeitsgedanken empfänglicher und bringt uns Gott, dem gemeinsamen Urquell alles Seins, in dem wir auch mit der Natur eng verbunden sind, näher als sonst. Dieser allgemeine Zug des Menschenherzens hat sich auch im Christentum nicht geändert und es zeugt nur von der Weisheit und vom weitherzigen Verständnis der Kirche, dass sie diesem tief eingewurzelten Bedürfnis Rechnung trug und neben der offiziellen und feierlichen Liturgie in den Dom-, Pfarr- und Klosterkirchen auch diese mehr private Frömmigkeit an den Wallfahrtsorten gewähren ließ. Mit besonderer Vorliebe verknüpfte das Volk solche ansprechenden Andachtsworte mit der ihm besonders naheliegenden Marienverehrung, und wir brauchen nur die Namen unserer beliebtesten Marienwallfahrten zu nennen: Maria Tax, Maria Larch und Maria Waldrast, Heiligwasser und Kaltenbrunn, Maria Brettfall, Locherboden, Weißenstein, Altötting - um zu erkennen, dass die Vorliebe unserer Ahnen für Wälder, Quellen und Bergeshöhen auch hier überall noch nachwirkt und durchschimmert.
Es ist begreiflich, dass die Rationalisten aller Zeiten die Wallfahrten leidenschaftlich bekämpft haben. Wer aber nicht vergisst, dass wir Menschen aus Leib und Seele bestehen und dass deswegen auch die sinnlichen Eindrücke für unser inneres, auch für unser religiöses Leben eine große Rolle spielen, wer weiterhin Sinn und Interesse für merkwürdige Volksbräuche, für poesievolle Legenden, für Bodenständigkeit, Duft und Farbe auch im religiösen Leben besitzt, der wird auch den Wert des Wallfahrens gebührend zu würdigen wissen.
Es ist viel wert, dass der Mensch als Wallfahrer einmal aus dem staubigen, ewig gleichförmigen Alltag herausgerissen wird. Sein Herz ist auf diese Weise freier, angeregter, aufnahmebereiter, und außerdem wirkt der weite und oft beschwerliche Weg, das Gefühl, ein Opfer auf sich genommen, etwas Schweres überwunden zu haben, dann die eindrucksvolle Lage des Wallfahrtsortes, die friedliche Stille der Kirche, das Bewusstsein, dass auch schon so viele andere ihre Sorgen hierher getragen und hier Trost gefunden haben - das alles wirkt zusammen, um unsere Andacht und unser Vertrauen mächtig zu beleben. Und je vertrauensvoller und inniger wir beten, desto leichter werden wir eben Erhörung finden. Das aber ist der eigentlichste und letzte Grund dafür, warum so viele Menschen von einer Wallfahrt erleichtert, getröstet und erhoben heimkehren.

Inhalt:
1. Ein Brief über das Wallfahrten
2. Drei Pilgerinnen zur heiligen Maria von den Engeln
3. Ein Wallfahrtstag in Marienthal
4. Das Gelöbnis einer Wallfahrt
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1. Ein Brief über das Wallfahrten
(Aus: Erinnerungen aus einer Reise durch einige Abteien in Österreich von J. B. Zarbl, 1836)
Lieber Freund! Das Wallfahrten an und für sich ist unserer hellsehenden Zeit ein Stein des Anstoßes und der Ärgernis. Es gibt ganze Scharen von Kreuzzüglern, die, gleich dem berühmten Ritter von Mancha, wohlbewaffnet gegen diese uralte, kirchliche und einflussreiche Sitte zu Felde ziehen. "Die Leute", dies ist ihr Feldgeschrei, "versäumen ihre häuslichen Arbeiten, verschleudern ihre sauer erworbenen Kreuzer, und lernen den Müßiggang! Überhaupt wallfahrten sie nur, um etwas Neues zu hören und zu sehen, werden dabei noch im Wahn der Werkheiligkeit bestärkt, und vernachlässigen ihre heimatlichen Seelsorger! Das Wallfahrten ist zudem der Gesundheit höchst nachteilig, wie die Weihnachtsmette um Mitternacht, und gibt, wie sie, zu Unsittlichkeiten und Ausschweifungen jeder Art hundertfältige Veranlassung! Letztlich tragen sie auch noch das Geld über die Grenze, wodurch sie dem Staat unberechenbaren Schaden zufügen!" Und dies ist noch gräulicher als Aberglaube, und Sünde und Laster!
Ich überlasse es Dir, diesen Knäuel von Vorurteilen und leidenschaftlichem Unsinn zu entwirren. Wir haben indessen in St. Wolfgang eine Schar Pilger gesehen, und der Anblick ihres frommen Zuges hat in meiner Seele all die rührenden Bilder wieder aufgefrischt, unter welchen mir diese Wallfahrten so oft und jedesmal erschienen sind. Mag die Welt davon sagen, was sie will, sie sind besser als sie von ihnen denkt! Auch ist das Wallfahrten so alt als unsere Kirche, und noch älter. Wir finden es allenthalben unter den religiösen Gewohnheiten, und jedes christliche Reich, ja fast jede Landschaft oder Gegend besitzt irgendeinen angesehenen Wallfahrtsort. Alles dieses, und dazu noch der Umstand, dass diese fromme Gewohnheit gerade in dem Maße abzunehmen scheint, in welchem sich überhaupt der Ernst, die Frische und Kraft des Glaubens verflüchtigen, und das religiöse Leben in jene tödliche Erschlaffung herabsinkt, scheinen mir für eine tiefere Wirksamkeit dieser heiligen Pilgerfahrten, sei es nun zur Mutter des Herrn, oder eines anderen Heiligen, zu zeugen.
Wie es in irdischer Beziehung unzählige Dinge gibt, die, ohne wesentlich in den großen Gliederbau des Lebens zu gehören, gleichwohl unermesslich vieles beitragen, das Leben in rechten, vollen Gang zu setzen, es zu heben, zu beseelen, zu verschönern, und dessen wesentlichen Forderungen zum Durchbruch zu verhelfen. Ebenso nun auch im religiösen, geistlichen Leben, und ich zähle zu diesen mächtigen Schwung- und Triebwerken vor vielen anderen unbedenklich das Wallfahrten. Die vorgeblichen Missbräuche werden auch hier tausendfach von dem guten Gebrauch überwogen. Ich will indessen hier nichts von einer verborgenen Wirksamkeit des Wallfahrtens sagen. Ich sage nichts von besonderen Gnadenerweisungen, nichts von Wundern, welche da unleugbar geschehen sind. Auch sage ich weder etwas von auffallenden Gebetserhörungen, noch wunderähnlichen Bekehrungen, noch von der Macht eines belebteren Glaubens, und überhaupt nichts von der Kraft der Fürbitte der Heiligen, oder endlich davon, ob nicht Gott an besonderen Orten den Bittenden besonders nahe sein wolle. Ich habe für jetzt einzig nur die natürliche, oder um es so zu nennen, die psychologische Wirksamkeit des Wallfahrtens im Auge. Und in dieser Betrachtung wird es nicht leicht etwas geben, das geeignet wäre, das menschliche Gemüt tiefer und wohltätiger zu erregen, als diese heilige Übung.
Man schreibt allenthalben dem Herauskommen aus dem gewohnten, alltäglichen Einerlei, und dem Anblick ungewöhnlicher Gegenstände eine besondere Einwirkung auf die Seele zu. Um zu anderen Empfindungen und zu neuen Betrachtungen geführt, kurz, um in eine andere als Deine werktägliche Gemütsstimmung versetzt zu werden, musst Du reisen. Warum soll das Wallfahrten im Wallfahrter nicht das Nämliche bewirken? Er hört Neues, er sieht Neues. Schon die Erwartung lüftet ihm ehe er fortgeht, die Empfindungen seines Herzens. Und je niederer er dann steht, je abgeschiedener, je ärmer und enger er lebt, desto weniger ist er das Reisen gewöhnt. Und was in Dir kaum der Weg durch ganze Reiche oder eine Gebirgswelt anzuregen vermag, regt in dieser einfachen Seele der ungewohnte Gang von einigen Meilen an.
Nichts ist ferner richtiger, als dass wir uns von unserem Tag für Tag das Gewohnte, von unseren Geschäften und Sorgen ein wenig ablösen müssen, um unser selbst inne zu werden. Wer niemals aus sich herausgeht, wird nie in sich eingehen. Der Lärm muss verstummen, die brennende Stirn muss sich abkühlen, und das unstet immer auf- und niederwallende Geflute des Herzens sich zur ruhigen Spiegelfläche klären, um Dir, in Dir selbst, in unverschobenem und unverzerrtem Bild auftauchen zu können. Einem großen, ja dem größten Teil der Menschen, deren Tagwerk die Mühe, und deren Nahrung der Schweiß ist, ist - außer den kirchlichen Festtagen, und selbst mehr noch als diese, eine Pilgerreise von etlichen Tagen die einzige Rast im ganzen langen Jahr, welche ihnen neben der Anregung zugleich auch die freie Zeit gewährt, ihren Seelenzustand in eine ernsthafte und wohltätige Prüfung zu nehmen. Indem der Wallfahrter die Seinigen, sein Haus, seine Arbeiten, sein Gewerbe auf eine halbe Woche hinter sich lässt, regt sich das innere Leben, und schwellt gleichsam von selbst, vom äußerlichen Druck entlastet, wie ein werdender Frühling, in alles Empfinden und Denken der Seele. Er gewinnt Raum zum Nachsinnen, das Gewissen kommt zum Wort, der Wille wird gelöst, das Herz taut auf, der Blick hellt sich, und der gewöhnlichen Nahrung beraubt, minder übersehen oder beschönigt, treten die Torheiten, Fehler und Sünden in ihrer wahren Größe und Gestalt, und in ihrer Verwerflichkeit sowohl, als mit allen ihren schrecklichen Folgen lebendiger in das Bewusstsein. Die Wallfahrten sind die geistlichen Übungen des Volkes.
Dem ersten Anschein nach möchte eine solche Wanderung freilich weit mehr zu zerstreuen, als zu sammeln geeignet sein, aber man geht nicht wallfahrten, wie man auf Reisen geht. Und es ist ebenso grundfalsch als lieblos, zu sagen, sie wallfahrten nur aus Neugierde oder anderen irdischen Vorhaben. Unter Tausenden gibt es nicht einen Einzigen, der in der Absicht, sich zu unterhalten, oder zügelloser zu leben, eine solche Pilgerfahrt antritt. Es wird vielmehr jede nur menschliche Rücksicht abgewiesen, und alles nimmt hier eine religiöse Beziehung an. Man besucht einen gnadenvollen Ort, dem man sich nur andächtig nähern darf. Man geht heiligen Dingen entgegen, man will gottselig gestimmt werden. Und anstatt dem Vergnügen zu frönen, wallen sie in der aufrichtigen Meinung: ihr Gewissen zu sühnen, ihre schweren Verirrungen zu beweinen, für ihre Übertretungen etwas zu büßen, ein Gott wohlgefälliges Werk zu verrichten, und durch die wirksame Fürbitte der Mutter unseres Erlösers, oder eines anderen Heiligen, den verlorenen Frieden des Himmels wieder zu erlangen. Dazu bereiten sie sich schon Tage lang vor.
So steigert sich also alles zu heiligen Absichten, zu einer gottseligen Stimmung. Indem sich aber der Pilger zu diesen bußfertigen Werken anschickt, taut seine Seele auch für die sittliche Besserung auf. Fromm und mild gesinnt, scheidet der Mann von Frau und Kind, die Frau von ihren Lieben, Geschwister von Geschwistern, und der Knecht von seinem Mitknecht. Gott weiß, ob sie einander wieder sehen werden! Sie nehmen Abschied, empfehlen sich gegenseitig in den göttlichen Schutz und Schirm; und wenn der Mann gegen die Frau, die Eltern gegen die Kinder, die Schwester gegen den Bruder, der Nachbar gegen den Nachbar etwas Feindseliges hegen, es schmilzt ihnen das Herz. "Gott weiß, ob wir uns wieder sehen!" Sie reichen, ehe sie fortgehen, einander die friedfertigen Hände. Und so versöhnt, wundersam erweicht, verlassen sie gegürtet, den Pilgerstab in der Hand, die Schwelle der Heimat. Da erwacht auf einmal die eingeschlummerte Liebe jung und innig, wieder. Die Sehnsucht sieht ihnen nach, die Sehnsucht schaut zurück, die Sehnsucht begleitet sie, und auf dem ganzen, langen Weg teilen sich nur reumütige und liebende Gedanken in ihre Herzen.
Und wie sehr ist die ganze Reise dieser Pilgrime gemacht, ernste, gute Gefühle und Entschlüsse zu wecken! Sie ist meistenteils lang, ungewohnt und voller Entbehrung, und sie selbst betrachten diesen Gang für einen Bußgang. Weit entfernt, sich etwa gleich uns, wenn wir einige Meilen über Land gehen, in einen sanften Wagen zu setzen, und wo möglich, mit allem was die Sinne und die Bequemlichkeit heischen, reichlich zu versorgen, wallen sie zu Fuß. Ein wenig Brot, das sie mittragen, und etliche Kreuzer ist alles, was sie erquicken kann, und selbst von diesem erhalten den größten Teil wieder die Armen. Unterdessen bringen sie die Stunden mit Beten hin, und legen sich, als genügten die natürlichen Beschwerden des Weges noch nicht, zu Hitze und Kälte, Regen und Wind, Hunger und Durst, und Müdigkeit an allen Gliedern, vielfältig noch freiwilliges Fasten, mit anderen Abtötungen und Bußwerken, auf. Ihre Herberge ist nicht selten der freie Himmel, und der harte Boden oder ein wenig Stroh die ganze Erquickung nach der Mühe des Tages. - Doch gerade dieses soll hier das Gefährliche ausmachen? - Abenteuerliche Vorsichtigkeit, welche die Nächte mit allen schnöden Genüssen frei gibt, und nur in strengen Bußübungen Gefahren sieht! Anstatt mich über körperliche Unfälle oder unsittliche Möglichkeiten zu ängstigen, möchte ich lieber zuerst diese Macht des Glaubens, diesen Ernst in der Sache des Heils, diese Gewalt über die Sinne, wozu wir vielleicht bei all unserer Weisheit nicht mehr stark genug sind, bewundern, und anstatt über Wahn und Aberglaube zu predigen, vielmehr überzeugt sein, dass diese einfachen, empfindlichen Bußübungen die Leidenschaften in Zaum legen, die Versuchungen dämpfen, die sittliche Kraft und Herrschaft der Seele mächtig erweitern, und in den Augen Gottes unendlich verdienstlicher sind, als all unser Wissen und unsere schimmernden Betrachtungen über Religion und göttliche Dinge, denen der Inhalt, die Werke abgehen! Ach, wer gegen sich selbst nie gewalttätig gewesen ist und Gott seine Opfer gebracht hat, hat noch keine Anwartschaft auf das Leben, denn er hat es noch nie errungen, und diese einfältigen, werktätigen Seelen werden einmal, vielleicht gegen uns, die schreckliche Wahrheit bezeugen: dass, wie unser wahres Erkennen durch das Leben bedingt wird, auch alle unsere Wissenschaft eitel ist, ohne die Werke!
Endlich nähern sich die Pilger dem heiligen Ort. Er ist der Gegenstand ihres Verlangens, und lange, und weit her schon haben ihre sehnsüchtigen Blicke seine Türme gesucht. Jetzt kommen sie aus einem Tal hervor, und steigen einen Hügel hinan. Jetzt erblicken sie die Zinnen der Gnadenkirche. Ein Schauer heiliger Rührung überwältigt sie, und Tränen stürzen aus ihren Augen. Sie entblößen ihre Häupter, fallen auf ihre Knie, küssen die Erde, und begrüßen von Ferne die allerseligste Jungfrau Maria oder irgend einen Heiligen. Dann entfalten sie die Fahne des Kreuzes, die vor ihnen her durch die Lüfte weht, und beginnen mit weichen, rührenden Stimmen ihre Litaneien. So wallt der fromme Zug betend, singend und weinend, dass es die Berge hören, in die gnadenvolle Stätte hinab, und ihr erster Gang ist nun, nicht - dass sie essen oder trinken, und den müden Leib erquicken, sondern - in die heilige Kapelle.
Und jetzt musst Du alle die unverhaltenen, ungestümen und herzergreifenden Ausbrüche ihrer gläubigen Begeisterung sehen! Die Wallfahrer denken an nichts mehr, vergessen Hunger und Durst, und durch ihre ermatteten, brennenden Glieder scheint sich neues Leben zu ergießen. Während die andächtigen Gewölbe noch von ihren Lobgesängen widerhallen, drängen sie sich in die wundervolle Kapelle. Hier wallt die Inbrunst über alle Schranken. Kein Auge schweift umher. Ihre Blicke sind nur auf das teure, wundertätige Gnadenbild hingeheftet. Jetzt sehen sie es! Sie sind ihm zu Liebe so weit gegangen! An seinen lang ersehnten Stufen werfen sie sich auf ihr Angesicht, richten sich dann in die Knie auf, und erheben die ausgestreckten, flehenden Arme zu den Füßen Marias oder eines Heiligen. In dieser Stellung verharren sie eine Zeit lang, und Gott allein sieht, was in dieser gesegneten Stunde in diesen tief bewegten Seelen vorgeht! Jegliche schüttet, je nach ihren Nöten, das ganze, überwallende Herz vor dem Gegenstand des Vertrauens aus. Ihre Reue, ihre Vorsätze, ihre Schmerzen, ihre Kümmernisse und Ängste, ihre Gefahren und Sorgen, ihre Bedürfnisse, ihre Danksagungen, ihre Wünsche und ihre zarten Fürbitten für die Lieben in der Heimat, und für alle, die des Heils bedürfen: Alles, alles was den tausendfältig belasteten, frohen oder trauernden Menschen auf dem Herzen liegen kann, wird in diesem Augenblick der Mutter des Herrn vorgetragen, um in vertrauensvollen, inbrünstigen Gebeten für alle Anliegen ihre mächtige Fürbitte zu erflehen. O dieses heilige Ungestüm des Glaubens! Welcher fühlende Mensch möchte solchen Bitten widerstehen! Und Gott, gütig und voll Erbarmen wie Er ist, soll dieses Flehen, das sich allzeit wieder auf Ihn bezieht, und dieses lebendigere Vertrauen, das der Heiland selbst zur Bedingung Seiner Hilfe macht, nicht - auf die inniglichst angerufene Fürbitte Marias oder eines anderen Heiligen - mit reichlichen Gnaden belohnen?
Nach diesen ersten Ergüssen der Andacht und der neu erwachten Liebe, treffen die Pilger Anstalt, sich mit Gott auszusöhnen, und ihre Gelübde zu lösen. Und hier werden wir die Wirksamkeit dieser Wallfahrten in einer anderen Weise sehen. O ich habe dieses heiße Sehnen, diese unermüdliche Geduld, diese unglaubliche Beharrlichkeit, die Tage und halbe Nächte lang ohne Speise und Trank ausdauert, nie anschauen können - ohne tief gerührt zu werden! Indessen atmet in all ihren Andachten und Übungen, im Empfang der heiligen Sakramente, wie in ihren Bußwerken, alles einen aufrichtigen und lebendigen Ausdruck, und die Wallfahrer sind hier viel andächtiger, als sie es sonst daheim sind. Schon durch den ungewohnten Gang, durch die Trennung von der Heimat, und die Eindrücke, die der ihnen drei Mal ehrwürdige Gnadenort auf sie macht, im Innersten aufgeregt, wird diese seelenvolle Stimmung noch höher gespannt durch den ganz eigentümlichen Ernst, mit dem sie an das vorhabende heilige Werk gehen. Sie nahen sich den Füßen eines Priesters, um ihre Sünden zu beichten. Ein wundersamer Schauer überwältigt sie. Sie haben sich tagelang darauf vorbereitet. Sie haben ihren Lebenswandel mit aufrichtiger Sorgfalt durchforscht, und möchten dieses Geschäft des Heils jetzt so vollkommen als möglich verrichten. In dieser glücklichen Gemütsverfassung legen sie nun das unermesslich heilsame Bekenntnis ihrer Schwachheiten und Übertretungen ab. Sie haben es vielleicht in ihrem ganzen bisherigen Leben niemals auf diese Weise getan. Durch und durch bewegt, löst sich auch die letzte Starrheit des Gemüts auf, und Tränenbäche bezeugen, wie die Seele aus dem Sündenfrost, der bisher alle besseren Lebenskeime gebunden hielt, im milden Hauch der Gnade auftaut. "Der Winter ist vorübergegangen, und die Blumen erscheinen auf der Erde!" Es wird da weder dem alten Menschen mit seinem Begehren, noch dem Seufzen und Wimmern des Herzens, das vor dem Entsagen seiner teuren, zarten Neigungen zurückschauert, mehr eine Einrede gestattet. Die Reue ist aufrichtig und tief, übernatürlich und vollkommen, und noch nie hat der Wille so einig mit sich selbst, seine Untreue und seine Verirrungen zurückgenommen, und so entschieden der Sünde ins Angesicht abgesagt.
Zu dieser außerordentlichen kommt dann noch, dass diesen Büßenden auch die Priester, denen sie alle Schwachheiten und Wunden ihres Lebens enthüllen wollen, unbekannt sind. Während daher auf einer Seite das ehrerbietige Zutrauen wächst, verschwindet auf der anderen selbst die letzte menschliche Rücksicht, nämlich die Furcht und Scham vor den Menschen. Und sie enthüllen ihre Gebrechen und Sünden nun so ohne Rückhalt, so redlich, so freimütig, so umständlich, und dabei so demütig, dass sie sich lieber Vergehen, derer sie nicht einmal schuldig sind, anklagen, als eine Übertretung verheimlichen möchten. Muss nicht eine solche Seelenstimmung, und ein solches Bekenntnis schon den Keim der Vergebung in sich tragen? Muss nicht diese bußfertigen Seelen, die so sich selbst richten, die ewige Barmherzigkeit vom Gericht freisprechen, und, wohl drei Mal würdig, wie verlorne und wieder gefundene Kinder in ihre versöhnlichen Arme schließen! Und so vernehmen sie denn jetzt auch aus dem Mund des Stellvertreters Jesu Christi, die allmächtigen und wirksamen Worte: "Deine Sünden sind Dir vergeben! Gehe hin in Frieden, und sündige nicht mehr!" - O Trost, wie es keinen anderen Trost auf der Erde gibt! -
Von diesem Augenblick an, fühlt sich die Seele des Pilgers wie neu geboren, und empfängt nun, also versöhnt, und überselig gestimmt, mit einem Glauben, mit einer Innigkeit und einem Frieden, wie vielleicht keinmal noch, jene wundervolle Speise vom Himmel, welche uns der Gottheit teilhaftig macht, und der Seele das Leben verleiht, weil sie das Leben selbst ist.
Das Wort Gottes hilft endlich das gesegnete Werk noch vollenden. Von dem rührenden Anblick dieser bußfertigen Scharen, die da so weit hergezogen, von der großen, starken Liebe, mit welcher sie das Heil suchen, selbst innig bewegt, und von einer ungewohnten Begeisterung gehoben, redet der priesterliche Herold Gottes voll Kraft und Salbung, und die himmlische Botschaft fließt mit holdseligem Zauber von seinen Lippen: "So hat noch nie ein Priester gepredigt!" Das Erdreich ist aufgelockert; eingetrocknet und dürr wie es war, haben es der Tau der Gnade, und die Tränen der Buße reichlich bewässert. Empfänglich und liebend nimmt er das Samenkorn des ewigen Lebens auf, um es treu und sorgfältig in seinem Schoß zu hegen, und unter den mildtätigen Einflüssen des Himmels hundertfältige Frucht bringen zu lassen.
Ist nun endlich das große Werk, um dessentwillen der Wallfahrter Tagreisen gemacht hat, glücklich vollbracht; ist zwischen seiner Seele und dem Herrn wieder Friede gestiftet; ist der schwere Stein von dem Herzen gewälzt, die Ruhe aufs Neue in dasselbe zurückgekehrt, und kann das Auge nun wieder heiter und getröstet in der schönen Schöpfung umherschauen; so schließen sich die Blicke des Pilgers jetzt auch der äußeren Welt auf. Er beginnt nun diesem Leben wieder anzugehören. Und wie viele neue, belehrende und anziehende Gegenstände drängen sich auf einer solchen Wanderung an dem verwunderten Fremdling vorüber! Er sieht allenthalben, in den Tempeln und ihrer Pracht, in den menschlichen Wohnungen, in den Sitten und Gebräuchen, im Landbau und in den Gegenden, Neues, das ihn anregt und seinen Sehkreis erweitert. Man mag hier immer von Neugierde oder Schaulust reden; es ist wenigstens eine anständige, edle Neugierde, und für den gemeinen Mann eben so wohltätig als für andere das Reisen.
Indessen