Katholische Predigten 3

1. Über den Hochmut

2. Über die Demut - I

3. Über die Demut - II

4. Über die Demut - III

5. Über die Demut - IV

6. Über die christliche Liebe

7. Über die Nächstenliebe

8. Über die Sanftmut

9. Sanftmut und Demut

10. Über die Friedfertigkeit

11. Über das größte und erste Gebot

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1. Über den Hochmut

 

Indem der Heiland vor den falschen Propheten warnt, gibt er ein untrügliches Erkennungszeichen an: an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Dasselbe gilt von der Unterscheidung der wahren Tugend von der falschen.

 

Zur Zeit, als der heilige Philipp Neri in Rom lebte, war viel Gerede von einer Ordensperson, die im Ruf der Heiligkeit stand. Selbst Wunderwerke wurden von ihr berichtet. Der heilige Philipp erhielt vom Papst den Auftrag, den Geist dieser Person zu prüfen. Wie fing er das an? Er ging den meilenweiten Weg zu dem Kloster zu Fuß beim schmutzigsten Wetter und kam ganz durchnässt und schmutzig an. Die Ordensfrau, der sein Besuch galt, fühlte sich nicht wenig geschmeichelt, dass ein so berühmter Mann zu ihr kam. Wie stutzte sie aber, als ihr Besucher nicht etwa ein frommes Gespräch begann, sondern ihr das Ansinnen stellte, sie möge ihm seine schmutzigen Stiefel ausziehen. In heller Entrüstung meinte sie, was ihm doch einfalle, ob sie denn seine Magd sei? Philipp sagte weiter nichts, sondern machte sich sogleich auf den Rückweg und berichtete dem Papst, mit der Heiligkeit jener Person sei es nichts, sie sei nicht demütig.

 

Die erste und schlimmste der sieben Hauptsünden ist der Hochmut; die erste und wichtigste der entgegengesetzten Tugenden aber ist die Demut. Weder zur wahren Bekehrung noch zur Festigkeit im Guten kann man gelangen ohne Demut; ohne sie ist jede Bekehrung Betrug, jede Tugend Heuchelei. Wer ohne Demut heilig werden will, baut auf Sand. Der Himmel leidet keinen Hochmütigen in seinen Räumen, die der demütige Heiland uns erschlossen hat; er stößt sie aus wie Luzifer und seinen Anhang. Der Eingang zum Himmel ist eng, das Tor schmal und niedrig; nur wer sich selbst erniedrigt, kommt hinein. "Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet," sagt der Herr, "könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie ein Kind, der ist im Himmelreich der Größte." (Matthäus 18,3+4) Also ohne Demut keine Versöhnung mit Gott, kein Fortgang in der Tugend, kein Wachstum in der Gnade, keine Beharrlichkeit im Guten und Sicherheit des ewigen Heils.

 

Nun aber sind über keine Tugend so viele irrige Ansichten verbreitet, wie gerade über diese. Und das ist auch kein Wunder. Der heilige Laurentius Justinianus sagt: "Wissen, was die Demut sei, ist so schwer, dass der Mensch in keiner Sache leichter der Täuschung unterliegt, als gerade in der Erkenntnis dieser Tugend. Niemand versteht sie, als der, dem es von Gott gegeben ist, wahrhaft demütig zu sein." Und der heilige Hieronymus bemerkt: "Den Schatten, den Schein der Demut mögen viele zu erwerben suchen, die Wahrheit, die Demut selbst aber streben wenige an." Wie vielen geht es auch heutzutage noch wie jenem heidnischen Philosophen, der seine Verachtung alles eitlen Wesens dadurch zeigen wollte, dass er mit einem zerlöcherten Mantel umherging. Der weise Sokrates beurteilt ihn richtig, indem er zu ihm sagte: "Durch die Löcher deines Mantels schaut nur deine Hoffart hervor."

 

Die Demut besteht keineswegs in der Flucht vor jeder Ehre und Auszeichnung, in erheuchelter Verachtung seiner selbst, in unwahrer Erniedrigung unter den Nächsten; sie ist kein frommer Selbstbetrug, feiger Kleinmut, keine unwürdige Wegwerfung seiner selbst oder niedrige Gesinnung. Sie ist im Gegenteil das aus dem Glauben kommende Erkennen und willige Anerkennen dessen, was wir in Wahrheit sind. Der heilige Bernhard sucht sie folgendermaßen zu erklären: "Die Demut ist jene Tugend, vermöge welcher sich der Mensch in der rechten und wahren Erkenntnis seiner selbst gering und verächtlich vorkommt." Und der heilige Thomas von Aquin: "Die Demut besteht vorzüglich in der Unterordnung des Menschen unter Gott und um seinetwillen auch unter die Mitmenschen." "Und was hast du," so fragt der Apostel, "das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?" (1. Korinther 4,7) - Alles was der Mensch bei aufrichtiger Erkenntnis seiner selbst findet, ist nur Schwachheit und Sünde. Aus sich selbst vermag er nichts als sündigen, "denn der Mensch", sagt der heilige Augustinus, "kann ohne Gottes Gnade weder etwas Gutes tun, noch irgend im Guten verharren; was er tun kann, ist nur das Böse, und es gibt nichts Böses, was der Mensch zu tun nicht fähig wäre; das Böse aber, das wir noch nicht getan haben, haben wir darum nicht getan, weil Gott sich unser erbarmt hat." Diese Erkenntnis muss uns dahin bringen, dass wir unsere allseitige Abhängigkeit von Gott fühlen und jede Selbstgefälligkeit verurteilen.

 

Die Erkenntnis unserer Schwäche und Abhängigkeit ist aber nur eine Seite der Demut; es muss noch hinzukommen, was viel schwerer ist, die willige Anerkennung dieser Wahrheit; das was der Heiland von uns fordert mit den Worten: "Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen!" "Diese Demut", sagt der heilige Bernhard, "lernen wir von dem, der sich selbst entäußerte und Knechtsgestalt annahm, der, als man ihn zum König ausrufen wollte, floh, als man ihn zur Schmach und Schande des Kreuzestodes verlangte, sich darbot, sich nicht aus Zwang, sondern aus Übermaß der Liebe freiwillig dahingab."

 

Die Freiwilligkeit in der Anerkennung der eigenen Schwäche und Niedrigkeit ist das Verdienstliche in der Demut. Der Stolze wird früher oder später sicher gedemütigt; wenn er sich aber dagegen empört, bessert es ihn nicht, sondern erbittert ihn nur. Der Demütige findet es ganz in der Ordnung, wenn er an seine Schwachheit und Abhängigkeit von Gott erinnert wird; und weil er sich willig als unnützen Knecht und armer Sünder erkennt, wundert er sich auch nicht, wenn er von anderen als solcher behandelt wird. Er findet es ganz in der Ordnung, wenn er zurückgesetzt und gering geachtet wird. Statt Ehre zu suchen, vermeidet er sie, statt sie zu wünschen, fürchtet er sie als Gefahr für sein Heil. Selbst üble Nachrede und unverdiente Verachtung erträgt er mit Gelassenheit; fühlt er sich in dem einem nicht schuldig, was man ihm vorwirft, so weiß er sich in vielen anderen Dingen schuldig, die straflos hingingen. "Wer nach Ehre geizt und die Verachtung flieht", sagt der heilige Thomas von Aquin, "oder wenn er verachtet wird, in Zorn gerät, ist, wenn er auch Wunder wirken würde, noch weit von der wahren Vollkommenheit entfernt, weil ihm die Grundlage aller Tugenden mangelt, die Demut."

 

Aber heißt das nicht seine Würde und Selbstachtung aufgeben, ist es nicht eine schimpfliche Erniedrigung seiner selbst, ein Wegwerfen seiner Person, eine Niederträchtigkeit? Keineswegs, im Gegenteil verträgt das sich recht wohl mit der Selbstachtung. Betrachte immerhin deine Würde als Geschöpf und Kind Gottes und werde dir nur recht deiner erhabenen Bestimmung und des göttlichen Ebenbildes bewusst, das in dir ist; aber vergiss auch nicht, wem du alles verdankst. Durch die Gnade Gottes bist du, was du bist. Und hast du mit Gottes Gnade viel Gutes erlangt, mehr als manche andere, so wirst du deshalb nicht dich rühmen dürfen, sondern Gott die Ehre geben. Während du dich groß fühlst, fühlst du auch dein Nichts und preist mit Maria den, der Großes getan hat an seiner geringen Kreatur. Paulus wusste recht gut, dass er mehr als alle anderen gearbeitet und gewirkt hatte für das Reich Gottes; deshalb aber erhob er sich nicht über andere, sondern gab Gott die Ehre. Er war sich nichts bewusst, hielt sich aber deshalb nicht für gerecht, sondern fürchtete das Gericht Gottes. Die wahre Demut besteht in der wahren Erkenntnis dessen, was man ist, und in der willigen Anerkennung unserer Abhängigkeit von Gott und der Unterordnung unter ihn und um seinetwillen unter andere.

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2. Über die Demut - I

 

Gib Rechenschaft von deiner Verwaltung, du kannst nicht länger mein Verwalter sein! Dieses Donnerwort wird jeder von uns einmal vernehmen, wenn der Herr uns die Verwaltung seiner Gaben abnimmt am Ende unserer irdischen Pilgerschaft. Wie müsste dieser Gedanke jedes hochmütige Gelüst niederschlagen, wenn wir ihn ernsthaft zu Herzen nehmen würden. Die Tugend der Demut beruht auf der wahren Erkenntnis unserer selbst, die uns dazu führen muss, dass wir uns selbst gering achten.

 

"Ich ermahne einen jeden von euch (so schreibt der Apostel), nicht höher von sich zu denken, als es sich geziemt, sondern bescheiden von sich zu denken." Die Erkenntnis, dass wir nichts von uns selbst haben und vermögen und Gott dem Herrn für alles Rechenschaft schuldig sind, muss uns diese demütige Gesinnung lehren, die uns vor Gott wohlgefällig macht. "Je geringer der Christ in seinen Augen ist, desto wertvoller ist er in den Augen Gottes", sagt der heilige Gregor. Von dem Wort einer solchen demütigen Gesinnung überzeugt, betete der heilige Augustin alle Tage: "Mache, o Herr, dass ich erkenne, wer ich bin und wer du bist, damit ich dich liebe und mich verachte." - Von uns selbst gering denken, das ist die erste Übung der Demut.

 

Dann dürfen wir uns auch nicht zu viel zutrauen. Es ist ein großer und nur zu alltäglicher Fehler, dass man sich zu viel zutraut. Man will sich deshalb nicht belehren, sich nicht ermahnen, sich nichts sagen lassen. Woher kommt es, dass so viele meinen, sie hätten Predigt und christlichen Unterricht nicht nötig? Weil sie sich auf ihr Wissen zu viel einbilden; weil es ihnen an demütiger Gesinnung fehlt. Woher kommt es, wenn die heranwachsende Jugend sich über jede Ermahnung hinwegsetzt und der Bestrafung widersetzt? Ich bin kein Kind mehr, heißt es da, weiß selbst, was ich zu tun habe, lasse mich nicht kommandieren. Kinder wie Erwachsene geben dem Hochmutsteufel Raum und halten Demut für eine Schande. Das eitle Selbstvertrauen bringt so viele zu Fall, die sich unnötig in Gefahren und Versuchungen begeben. Wenn ich mit dir sterben müsste, würde ich dennoch dich nicht verleugnen - so sprach der Felsenmann unter den Aposteln zum Herrn. Es war ihm offenbar ernst mit seinem Vorsatz und Versprechen. Und siehe, einige Stunden später hatte er schon dreimal seinen Meister elend verleugnet. Warum? Weil er sich selbst zu viel zugetraut, die Gelegenheit nicht gemieden, nicht gewacht und gebetet hatte. Der heilige Philippus sprach wohl zu Gott: "Herr, hüte dich vor mir, denn ich werde dich verraten, weil kein Laster so groß ist, dass ich es nicht begehen werde, wenn du mich nicht hütest." - So müssen wir gesinnt sein, wenn wir Demut üben wollen.

 

Ferner dürfen wir uns über niemand erheben. Wieviel Zank und Uneinigkeit kommt daher, dass einer gescheiter und besser sein will als der andere und keiner vor anderen zurückstehen will. Wieviel Feindschaft, üble Nachreden und Neid entsteht daraus, dass man sich dessen für würdiger hält, was andere haben. Die Demut denkt anders. Der heilige Ambrosius sagt: "Nach der Lehre des Apostels müssen sich die Christen in Ehrenbezeugung zuvorkommen, und einer muss den anderen höher achten als sich; die Untergebenen sollen gerne dienen, die Vorgesetzten nicht aufgeblasen sein; der Arme soll sich nicht über den Reichen erheben, und der Reiche sich gerne zu dem Armen niederbeugen; und wegen der zeitlichen Besitzungen soll man keine größere Auszeichnung verlangen, als jemand wegen seiner guten Sitten verdient." Und der heilige Bernhard schreibt: "Es ist schon ein großes Übel und eine furchtbare Gefahr, wenn du dich nur ein wenig über andere erhebst, wenn du dich in Gedanken auch nur einem vorziehst, der dir gleich oder größer ist als du. Stelle daher nie einen Vergleich zwischen dir und einem Höheren an; ja vergleiche dich nie mit einem Niederen oder überhaupt mit irgend einem. Weißt du, ob jener eine, den du für den Geringsten und Armseligsten hältst, einst vor Gott nicht besser sein wird als du? Ob er es nicht schon jetzt ist? Darum wollte der Herr, dass wir uns an den letzten Platz setzen. Er sagt nicht an einen mittleren Platz, nicht an den vorletzten; er sagt nicht einmal, dass wir uns unter den letzten Plätzen einen aussuchen sollen; sondern an den letzten Platz sollen wir uns setzen" - also gar niemand vorziehen.

 

Endlich erfordert die demütige Gesinnung, dass man sich alles Lobes für unwert hält. Nichts schmeckt süßer als Lob; alles will gelobt sein. Und doch ist für die Tugend der Demut nichts gefährlicher als Lob. Der Hochmut freut sich über Lob, selbst wenn es nicht verdient ist. Die Demut hingegen erschrickt selbst über verdientes Lob und weicht ihm aus. Das sehen wir bei der demütigen Magd des Herrn. Selbst über das Lob aus Engelsmund erschrak sie, und je höher sie gepriesen wurde, desto tiefer demütigte sie sich. Der heilige Augustin sprach bei sich, wenn er gelobt wurde: "Sie loben mich, aber ich kenne mich besser als sie; besser noch kennt mich Gott, denn er weiß, dass ich nicht nur keine Ehre, sondern alle Verachtung und die Hölle verdiene." Wenn der demütige Franz von Assisi gelobt wurde, sprach er: "Er weiß es, der alle Herzen kennt, dass solches nicht um meinetwillen geschieht, sondern dass es von Gott kommt, dem alles Lob gebührt."

 

Die Demut verlangt also, dass wir kein Verlangen haben nach eitler Ehre, und kein eitles Wohlgefallen daran haben, wenn sie uns zuteil wird.

 

Die Ehrfurcht, das Trachten nach Ehre und Ansehen ist das Grab der Demut. Wie oft schärfte Jesus seinen Jüngern ein, dass sie nicht nach den ersten Plätzen, nach Vorrang und Macht trachten sollten. Der erste von ihnen solle aller Diener sein. Und als sie einst frohlockend erzählten, dass sie Großes vollbracht, ja Teufel ausgetrieben hätten, antwortete er voll Ernst: "Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen!" Er wollte sagen: "Hütet euch vor Hochmut und Prahlerei. Der Satan stand so hoch und ist so tief gefallen, weil er dem Hochmut Raum gab. Eure Freude, euer Ruhm soll sein, dass eure Namen im Himmel eingeschrieben sind." (Lukas 10,17-20)

 

Es gibt auch keinen Heiligen im Himmel, der nicht gern alles Lob, alle Ehre ausgeschlagen hätte, soviel er konnte. Jedes Heiligenleben ist voll von Beweisen dafür.

 

Die Demut verlangt weiter, dass man es gern oder doch geduldig erträgt, wenn man eines Fehlers wegen getadelt oder zurechtgewiesen wird.

 

"Die meisten Menschen (sagt der heilige Alfons von Liguori) gleichen hierin den Igeln. Solange man die Igel nicht anrührt, scheinen sie sanft und ruhig; wenn man sie aber angreifen will, strecken sie die Stacheln aus. So ist es bei den Menschen, die keine Demut haben. Solange man sie gehen und in Ruhe lässt, sind sie demütig und bescheiden; wenn man sie aber nur im geringsten zurechtweist, werden sie lauter Stacheln." Wer die Bestrafung hasst, sagt die Schrift, steht in den Fußtapfen der Gottlosen. "Wenn ihr getadelt werdet", sagt der heilige Alphons weiter, "so opfert eure Beschämung darüber Gott zur Genugtuung für den begangenen Fehler auf."

 

Wie aber, wenn man fälschlich beschuldigt und bestraft wird? Dann tust du am besten, wenn du deinem göttlichen Meister und Vorbild folgst, als er vor dem Hohen Rat viele falsche Anklagen hören musste. Jesus aber schwieg. - Aber, sagst du, das ist zu hart, und man muss doch sein Recht behaupten. Wohl ist es hart, auch darfst du dich verteidigen, wenn es nur ohne Bitterkeit geschieht, mit möglichst wenigen Worten. Das Schweigen aber ist vollkommener. Es ist härter, aber die Tugend der Demut ist ein solches Opfer wohl wert; und das Himmelreich leidet ja Gewalt. "Wer wahrhaft demütig sein will", sagt der heilige Philipp Neri, "der entschuldigt sich nicht, wenn er selbst mit Unrecht beschuldigt wird." Und die heilige Theresia: "Wer eines Fehlers wegen beschuldigt wird und sich nicht entschuldigt, der gewinnt mehr, als wenn er zehn Predigten angehört hätte." - Der heilige Thomas von Aquin musste einst bei Tisch vorlesen. Da rief ihm der Vorgesetzte zu, er habe ein Wort falsch gelesen. Augenblicklich wiederholte Thomas das Wort und betonte es, wie es verlangt wurde. Und doch hatte er richtig gelesen, der Vorgesetzte hatte sich geirrt. Als man Thomas nachher fragte, warum er nicht sein Recht behauptet habe, gab er die schöne Antwort: "Es liegt wenig daran, ob man ein Wort so oder so liest, gar viel aber liegt daran, dass man demütig und gehorsam ist."

 

Endlich verlangt die wahre Demut, dass wir Schwierigkeiten, Kränkungen, Beschimpfungen geduldig hinnehmen.

 

Nichts fällt dem natürlichen Menschen schwerer, als Kränkungen geduldig zu ertragen. Er meint, seine Ehre verlange es, dass er sich räche. Der Christ denkt anders. Er schaut auf Christus, der nicht wieder schimpfte, als er gescholten wurde, nicht drohte, als er litt, sondern seine Beleidiger entschuldigte und für sie betete. So tat auch seine getreue Schülerin, die heilige Theresia. Sie freute sich mehr, wenn sie mit Schmach, als wenn sie mit Ehre überhäuft wurde. Als sie einst von einer bösen Frau misshandelt wurde, wollten ihre Begleiterinnen die Frau züchtigen. Theresia aber verbot es ihnen mit den Worten, die der Heiland zu seinen Jüngern sprach, als sie Feuer herabrufen wollten über eine widerspenstige Stadt: "Ihr wisst nicht, wessen Geistes ihr seid!" Diese Heilige hatte es soweit in demütiger Gesinnung gebracht, dass man von ihr sagte: "Wer von Theresia recht geliebt sein will, muss sie nur recht beleidigen."

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3. Über die Demut - II

 

Die demütige Gesinnung muss und wird sich zu erkennen geben im Reden und Handeln. 

 

Rede, damit ich dich kennen lerne, sprach einst ein Weiser. Des Herzens Grund blickt aus dem Mund. Wer also wahrhaft demütig gesinnt ist, wird nicht hoch, sondern gering von sich reden und seine Fehler eingestehen. 

 

"Wenn du demütig von Herzen bist", sagt der heilige Alfons von Liguori, "so achte darauf, kein Wort zu reden, das nach Eigenlob riecht, es mag dein Benehmen, deine Talente, deine guten Werke, deine Familie, deine Verwandten, Kenntnisse, Reichtümer oder sonst etwas betreffen, was sich auf menschliche Ehre bezieht." - Wer konnte sich mehr mit Recht rühmen als Jesus? Er aber sprach und handelte danach: "Ich suche nicht meine Ehre, es ist einer, der sie sucht und richtet!" - Ebenso verhielt sich seine gebenedeite Mutter. Niemals hören wir sie rühmlich von sich reden. Und sein heiliger Vorläufer, als er nicht ausweichen konnte, von sich zu reden, nannte sich die Stimme eines Rufenden in der Wüste.

 

Sollte man also niemals Rühmliches von sich sagen dürfen; und sollte man schweigen müssen, wenn unsere Ehre angegriffen wird? Darauf antwortet der heilige Augustinus: "Nicht jede Demut ist die rechte; die rechte ist nicht unbeholfen, sondern weiß überall das rechte Maß und Ziel einzuhalten. Es gibt eine Demut der knechtischen Furcht und eine Demut der Unwissenheit und Unbeholfenheit." - Der Apostel Paulus lehrt uns, dass man seine Ehre verteidigen darf, wenn sonst Ärgernis entstände. Sein apostolisches Ansehen stand auf dem Spiel, die Gläubigen waren in Gefahr, an ihm irre zu werden, so sehr hatten seine Feinde ihn herabzusetzen gesucht, da musste er wohl von seiner hohen Stellung, seinen Vorzügen und Verdiensten reden. Aber schwer fiel es ihm. "Keiner soll mich für einen Narren halten." sagt er. "Tut ihr es aber doch, dann lasst mich auch als Narren gewähren, damit auch ich ein wenig prahlen kann."

 

Wenn der Apostel sich gezwungen sieht, von seinen Vorzügen zu reden, so redet er sofort wieder gering von sich, erinnert an sein früheres Leben als Verfolger der Kirche Christi und nennt sich eine Missgeburt, den geringsten unter den Aposteln, der nicht wert sei, Apostel zu heißen. Er nennt sich einen Lästerer, Verfolger, den größten unter den Sündern. (1. Korinther 15,8-9; 1. Timotheus 1,13)

 

So finden wir bei allen Heiligen, dass sie am liebsten gering von sich redeten. Es war ihnen wirklich ernst damit. Oft hört man Menschen sich selbst herabsetzen, die damit nur Lob erhaschen oder sich den Schein der Demut geben wollen. "Viele haben den Schein der Demut, die Tugend selbst aber nicht", sagt der heilige Ambrosius. Sie stellen sich bescheiden an und sind doch voll unbändigen Hochmuts. Es geht mit ihnen wie mit der Person, die ihrem Beichtvater gegenüber beständig gar demütige Reden führte und sich eine große Sünderin nannte. Da wollte der Beichtvater sie einst auf die Probe stellen und sagte ihr, sie solle sich doch endlich bessern, er habe auch schon allerlei Unrühmliches von ihr gehört. Darüber wurde die Person aber so erbost, dass sie in Schmähreden ausbrach und alle verwünschte, die ihr Übles nachsagten. So erwies sie sich als Heuchlerin und bestand die Probe schlecht. - Willst du auch diese Klippe meiden? Nun wohl, dann rede weder Rühmliches noch Unrühmliches von dir, sofern es sich vermeiden lässt. Ist es doch schon eine Forderung der gewöhnlichsten Wohlanständigkeit, dass man nicht unnötig von sich selber rede. Übe, was der Anstand fordert aus Tugendliebe, und du wirst dich angenehm machen bei Gott und den Menschen.

 

Von den Äußerungen der Demut sagt dann weiter der heilige Gregor: "Vorzüglich muss man darauf bedacht sein, seine Fehler freiwillig zu bekennen und sie nicht zu leugnen, wenn sie von anderen uns vorgehalten werden." Die wahre Demut ist tapfere Wahrhaftigkeit. Lügen und leugnen, seine Fehler nicht eingestehen oder vertuschen wollen, ist Feigheit. Was hindert gewöhnlich daran, offen und ehrlich zu sagen: Das habe ich getan? Man ist zu feige, um die Folgen auf sich zu nehmen; noch öfter aber ist es der Hochmut, er eine Demütigung nicht ertragen will. Die Demütigung des offenen Bekenntnisses ist der wichtigste Schritt zur Besserung. Deshalb verlangt Gott das Bekenntnis in der Beichte und ist dieses ein unerlässliches Stück des Sakramentes der Buße.

 

Der Demütige besteht auch nicht auf seiner Meinung und gesteht es offen, wenn er sich geirrt hat. Er gibt gern nach, selbst wenn er recht zu haben glaubt, und gesteht es ohne Zaudern ein, wenn er etwas nicht weiß. "Es ist nicht möglich," sagt Kassian, "dass derjenige nicht vom Teufel betrogen wird, der hartnäckig auf seinem Urteil besteht, sowie es ein sicheres Mittel ist, den Täuschungen des bösen Feindes zu entgehen, wenn man sich an das Urteil der Vorgesetzten oder der Erfahrenen hält; und ganz gewiss liebt sich derjenige auf eine verkehrte Weise, der will, dass andere irren, um seinen eigenen Irrtum darunter zu verbergen." - Ein schönes Beispiel gibt der ebenso fromme wie gelehrte Bischof Fenelon. Er hatte aus Übereifer sich zu irrigen Lehren verleiten lassen. Eine Schrift von ihm wurde in Rom verurteilt. Fenelon erklärte ohne Zaudern und Verdruss öffentlich: "er habe sich geirrt und unterwerfe sich dem Urteil der Kirche." - Der heilige Augustinus wurde einst in einer gelehrten Frage um Aufschluss gebeten. Er antwortete: "Ich möchte wohl in der fraglichen Sache Bescheid wissen, weiß es aber nicht; ich ziehe es also vor, meine Unwissenheit einzugestehen, als eine falsche Wissenschaft zur Schau zu tragen."

 

So zeigt sich die Tugend der Demut im Reden: sie redet nicht zu hoch von sich, sondern lieber gering, gesteht die Fehler ein und will sich nicht in erlogenen Schein hüllen. Wie zeigt sie sich in den Handlungen?

 

Vor allem bewahrt sie Gelassenheit und Sanftmut bei Beleidigungen, Spott, Verachtung, die uns zuteil werden. Das wollte Jesus lehren, da er sprach: "Wenn dich jemand auf die eine Wange schlägt, so reiche ihm auch die andere hin." (Matthäus 5,39) "Jesus will nämlich," so erklärt der heilige Ambrosius, "dass seine Jünger bei Beleidigungen geduldig sind, damit sie nicht, indem sie sie erwidern, das den Jünger Jesu unterscheidende Merkmal der Demut verlieren; denn die Geduld ist ein Zeichen der Demut." - Wie oft wurde die heilige Theresia, während sie Klöster und andere fromme Stiftungen gründete, und zur Beschaffung der Mittel das Land durchwanderte, als Heuchlerin, Lügnerin, Närrin verschrien und von den meisten als Schwärmerin behandelt. Die demütige Seele freute sich über diese Schmach mehr als über alle Ehre, die ihr je widerfuhr. - Bruder Franz vom Christkindlein sammelte einst in einem Gasthaus Gaben für arme Leute. Ein Offizier wurde darüber so aufgebracht, dass er ihm eine tüchtige Ohrfeige versetzte. Der demütige Bruder wurde weder erbost noch verwirrt, sondern sagte nur: "Da haben Sie mir ein Almosen gegeben, nun geben Sie noch eins für meine Armen!" - "Das sicherste Kennzeichen der Demut ist Gelassenheit bei Erduldung von Unbilden", sagt der heilige Chrysostomus.

 

Eine andere Äußerung der Demut erklärt der heilige Basilius mit den Worten: "Wer sich der Demut befleißigen will, wird auch die geringeren Verrichtungen mit allem Eifer auf sich nehmen und mit Aufmerksamkeit ausführen in der Erkenntnis, dass auch das Allergeringste, wenn es Gott zuliebe geschieht, nicht gering ist, sondern groß und verdienstlich, so dass es uns den Himmel und seine ewigen Güter zur Belohnung verschaffen kann." Die Heiligen Gottes wussten das. Hochgeborene und vornehm Erzogene suchten wie einen Ehrendienst die niedrigsten und beschwerlichsten Arbeiten in der Küche, im Haushalt, auf dem Feld zu verrichten, und wenn ihnen dergleichen zugemutet wurde, wendeten sie nicht ein, was man alle Tage hören kann: Das kommt mir nicht zu, dafür bin ich nicht da, das mögen andere tun. Die wahren Jünger Jesu sprechen hingegen mit ihm: "Ich bin nicht gekommen, mich bedienen zu lassen, sondern zu dienen."

 

Die äußere Übung der Demut betrifft endlich auch die Art sich zu kleiden und sich zu benehmen. Den Vogel erkennt man an seinen Federn, den Hochmütigen an seinem Putz. Welche unsinnige und oft unverschämte Moden werden aufgebracht, um der Prunksucht und Eitelkeit zu dienen. Die Reichen bringen sie auf, um etwas voraus zu haben, und die Geringen ahmen sie nach, um es jenen gleichzutun. Der heilige Basilius mahnt: "Suche nicht in der Farbe der Kleidung dein Wohlgefallen, noch in ihrem Zuschnitt die Zierlichkeit, Neuheit und Weichlichkeit. Dein Kleid soll dich bedecken und wärmen; einen anderen Dienst sollst du von deinem Kleid nicht fordern. Dein Gang sei nicht zu langsam, damit du nicht träge erscheinst, aber auch nicht zu eilig, damit er nicht Leidenschaftlichkeit verrät." Der heilige Benedikt fügt noch hinzu: "Meide jedes unmäßige Gelächter, rede nie mit schreiender Stimme und zeige dich in deinem ganzen Benehmen bescheiden." "Ist das Wort, die Rede wohl geordnet und der Leib recht gedemütigt", sagt der heilige Basilius, "so wird es auch die Seele sein; denn sie richtet sich nach der Verfassung des Leibes."

 

Möchten wir diese äußere Demut stets wie ein Ehrenkleid an uns tragen, als den schönen Abglanz der inneren Demut; dann wird uns das Wohlgefallen und die Gnade Gottes nicht fehlen, der die Demütigen liebt und erhöht.

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4. Über die Demut - III

 

In der Parabel vom Pharisäer und Zöllner im Tempel will der Herr uns zeigen, was die Tugend der Demut bedeutet für unser Verhältnis zu Gott und unser Seelenheil. Ein verrufener Sünder fand Gnade vor Gott, weil er sich demütigte; ein selbstgefälliger Gerechter wurde verworfen, weil er sich seiner guten Taten rühmte. Die Bedeutung der Demut liegt darin, dass sie uns auf dem Weg des Heils erleuchtet, zum guten Kampf stärkt, uns mit Gott aussöhnt und die Fülle seiner Gnaden erwirbt.

 

Als der Herr einst von den Geheimnissen des Reiches Gottes redete, rief er aus: "Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Kleinen aber offenbart hast." (Matthäus 11,25) Wer sind aber diese Kleinen? Die Demütigen. Sie sind empfänglich für das Gnadenlicht, ohne das niemand zum Glauben kommt. Ein Wunder der Gelehrsamkeit und Gotteserkenntnis war der heilige Thomas von Aquin. Er durfte sogar aus dem Mund des Gekreuzigten hören: "Thomas, du hast gut von mir geschrieben!" Woher hatte er seine hohe Einsicht? Er sagt es mit den Worten: "Gott sei Dank, ich bin nie mit dem Übel des Stolzes geschlagen gewesen." - Nikodemus kam heimlich des Nachts zu Jesus, um sich von ihm unterrichten zu lassen. Die Lehre von der geistigen Wiedergeburt verstand er nicht. "Wie," sagte Jesus, "du willst ein Meister in Israel sein und verstehst dieses nicht?" Nikodemus erwiderte kein Wort auf diese Zurechtweisung. Er demütigte sich und fühlte in seinem Inneren ein Licht aufgehen, das ihm alles klar machte. Die Demut führte ihn zum Heil. "Die Demut bringt das Licht der Erkenntnis", sagt der heilige Gregor, "die Hoffart löscht es aus." - "Ein Einsiedler", erzählt der heilige Bonaventura, " hatte lange vergeblich über den Sinn einer Schriftstelle nachgedacht. Da suchte er sich durch vieles Beten, Fasten und Kasteien der göttlichen Erleuchtung würdig zu machen; wieder vergeblich. Endlich machte er sich auf zu einem anderen frommen Diener Gottes, um ihm seine Unwissenheit zu gestehen und um Belehrung zu bitten. Noch war er auf dem Weg, als ihm ein Licht aufging über die Schriftstelle und er die Worte vernahm: Was dir jahrelanges Nachdenken, Beten und Fasten nicht zuwege brachte, bringt dir die Demut!"

 

Mit dem Licht von oben verschafft uns die Demut auch die Kraft, um die Kämpfe des Heils siegreich zu bestehen.

 

Als der furchtbare Riese Goliath dem Hirtenknaben David gegenüberstand und sich anbot, mit ihm zu kämpfen, zog man ihm eine prächtige goldschimmernde Waffenrüstung an. Sie war ihm zu groß und zu vornehm, er zog sie wieder aus und legte seinen bescheidenen Hirtenrock an, hing die Hirtentasche um, nahm die Schleuder und einige Kieselsteine zur Hand - so ging er auf den Riesen los und überwand ihn. Die Demut des Hirtenknaben überwand den Stolz des Riesen.

 

So soll es auch mit unserem Kampf gegen die prahlerische und verführerische Welt sein. "Denn alles, was von Gott stammt, besiegt die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube. (1. Johannes 5,4) Glaube und Demut sind eins. Der heilige Antonius sah einst die ganze Welt voller Fallstricke für die Seelen. Herr, rief er voll Schrecken aus, wie wird der schwache Mensch sich retten können? Und es wurde ihm geantwortet: Durch die Demut!

 

Den zweiten Feind tragen wir überall mit uns in unserm Innern; selbst wenn wir die Welt fliehen und uns in der Einöde verbergen wollten, hätten wir ihn zu fürchten. Es ist das Fleisch, die verkehrte Begierlichkeit. Auch diesen Feind zu bezwingen hilft uns die Demut. Treffend vergleicht Tertullian sie mit dem Sand am Meeresufer, der die Wut der Wellen bricht: "Gott hat bei Erschaffung der Welt ein kleines Sandkörnlein genommen, die Wellen des Meeres damit aufzuhalten. Und indem er es auf die Erde hingestreut, hat er gesagt: Bis hierher und nicht weiter sollst du kommen." Also braucht er gegen die Hochflut der Begierlichkeit auch nur ein kleines Sandkörnlein, die Demut. Sie sollte wie ein niederes Gestade das Meer der Begierden in Schranken halten. Wäre die Demut nicht, wohin würden die Leidenschaften uns bringen. Alle Sklaven ihrer Leidenschaften sind es darum, weil sie nicht demütig sind. Die irdischen Güter verblenden sie; die Eitelkeiten der Welt weisen sie von einer Torheit zur anderen, die Wollust treibt sie zu den größten Schandtaten an, der Neid verzehrt sie, der Geiz lässt sie bei vollen Säcken hungern. Sie gleichen hohen Gestaden, denen es am Sand fehlt, der die Gewalt der Wellen bricht. Wie sie von den anschlagenden Wassern untergraben werden und sich nach und nach ablösen, so werden auch Menschen, denen es an Demut fehlt, von den Begierden des Fleisches durchwühlt und ein Stück nach dem anderen fällt von dem Guten ab, das sie sonst noch an sich hatten, bis sie endlich gänzlich in den wilden Fluten der Sinnlichkeit und Sündhaftigkeit versinken. Was tut aber die Demut? Sie unterdrückt die bösen Regungen und hält sie in Schranken; sie ist der bändigende Sand für die wilden Fluten. - "Was für einen Schaden würden diese wilden Wasserwogen der Begierlichkeit anrichten ohne Demut", sagt der heilige Basilius. Die Demut lehrt uns unsere Schwäche kennen, die Gefahr meiden und die Hilfe dessen suchen, durch dessen Gnade wir alles vermögen.

 

Wenn endlich der Teufel uns versucht, so sucht er gewöhnlich Eingang durch Erregung der Selbstgefälligkeit. Durch Selbstgefälligkeit vermag er selbst Heilige zum Fall zu bringen. Seine List und sein Betrug kann nur durch Demut entlarvt werden. Die Demut ist der Schild, in dem die feurigen Pfeile des Satans stecken bleiben; sie ist das Schwert, sagt die heilige Magdalena von Pazzis, vor dem der Satan die Flucht ergreift; wie eine Geißel flieht er sie, sagt St. Laurentius Justiniani.

 

Der Teufel hasst nichts mehr als die Demut: Gott hingegen liebt nichts mehr als diese Tugend. Wodurch hat die allerseligste Jungfrau Gottes Wohlgefallen auf sich gezogen, so dass sie von allen Menschen zu der einzigen Würde der Gottesmutter auserwählt wurde? Durch ihre unvergleichliche Herzensreinheit? Oder durch ihren Gehorsam? So groß diese und alle anderen Tugenden auch bei ihr waren, so hätten sie doch in den Augen Gottes nichts gegolten ohne die Demut. "Du hast angesehen die Niedrigkeit (Demut) deiner Magd", sagt sie. Der Demut schreibt sie ihre Auserwählung zu. Bei den Demütigen kehrt Gott ein. In seinem irdischen Wandel ging der Herr an den Häusern der Stolzen vorüber, bei den Demütigen kehrte er ein. Er betrat nicht das Haus des königlichen Beamten, der ihn voll Selbstgefühl einlud, aber zu dem Hauptmann zu Kapharnaum, der sich seines Besuches für unwert hielt, kam er ungeladen. Ebenso lud er sich bei dem demütigen Zachäus ein.

 

Wie Gott das Gebet des Zöllners im Tempel erhörte, so hat er immer mit Wohlgefallen das Gebet der Demütigen aufgenommen. "Das Gebet der Demütigen (sagt die Schrift), dringt durch die Wolken, es hat keine Ruhe, bis es hinkommt, und geht nicht von dannen, bis der Allerhöchste es ansieht." Wie schön zeigt das die Geschichte der heidnischen Kanaaniterin. Sie rief den Heiland an: Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner, meine Tochter wird von einem bösen Geist geplagt! - Jesus schien nicht zu hören. - Da die Frau nicht nachließ zu rufen, sagten die Jünger: Herr, erhöre sie, sie ruft dir nach. - Jesus antwortete: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen Israels gesandt. - Indes kam die Frau näher, fiel vor Jesus nieder und sprach: Herr, hilf mir doch! Auch jetzt wies Jesus sie ab mit den Worten: Es ist nicht recht, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden vorzuwerfen. Die Frau verstand wohl, dass er damit die Heiden meinte. Sie demütigte sich aber noch mehr und sprach: Herr, auch die Hündlein essen von den Brosamen, die vom Tisch fallen! Da der Herr eine solche Demut sah, konnte er nicht länger widerstehen, sondern sprach: Frau, dein Glaube ist groß, dir geschehe, wie du verlangst!

 

Was wir vor allem von Gott zu erbitten haben, ist die Verzeihung der Sünden, die Versöhnung mit ihm. Fast auf jeder Seite sagen uns die heiligen Schriften, dass dies ohne Demut nicht möglich ist. Der milde Heiland, der gute Hirt, der da gekommen war um die Sünder zu retten, wies beständig die Pharisäer zurück und kündigte ihnen die Verwerfung an wegen ihres Hochmuts. Die elendsten Sünder, auf die sie mit so großer Verachtung herabsahen, würden eher gerettet werden wie sie: "Wahrlich, ich sage euch: Zöllner und Dirnen werden eher in das Reich Gottes eingehen als ihr." (Matthäus 21,31) Weshalb? Weil sie sich nicht aufblähen wegen angeblicher Gerechtigkeit, weil sie leicht zur Erkenntnis ihrer Sündhaftigkeit und zur Verdemütigung wahrer Buße kamen.

 

Die Demut ist die Grundlage aller wahren Tugend und der Schlüssel zu allen Gnadenschätzen Gottes. Zum Beweis dessen sei nur noch an eins erinnert. Der Herr hat in den acht Seligkeiten einer jeden Tugend einen besonderen Lohn verheißen, den Sanftmütigen den Besitz der Erde, den Barmherzigen Barmherzigkeit, den Trauernden Trost, den Demütigen (Armen im Geist) aber das Himmelreich. Er sagt nicht, sie werden den Himmel erlangen; nein, ihrer ist das Himmelreich, sie haben den Himmel schon auf Erden.

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5. Über die Demut - IV

 

Warum verbot Jesus nach der Heilung des Taubstummen, man solle niemanden davon sagen? Ein Grund war gewiss dieser: er wollte die wichtigste Christentugend lehren, die Demut. Wollen wir diese Tugend lernen, so müssen wir auf unser göttliches Vorbild schauen und auf ihn hören.

 

Jesus lehrt die Demut durch sein Beispiel. Von der Krippe bis zum Kreuz übte er selbst diese Tugend in heldenmütiger Weise. Da er in diese Welt eintritt, erscheint er als Kind armer Leute. Er der Abglanz der Herrlichkeit Gottes, das Ebenbild seines Wesens, erscheint als der ärmste von allen, der nicht hat, wohin er sein Haupt hinlegen kann. Was kann demütiger sein als Windeln für den, der alles trägt in Kraft seiner Macht, und eine Krippe als Wiege für den, der in der Höhe zur Rechten des Vaters sitzt? Dann lässt er sich den schlechtesten Winkel von Bethlehem streitig machen, in dem er Unterkunft fand; er flieht vor dem Tyrannen, den er mit einem Hauch seines Mundes zerschmettern konnte. Welch ein liebenswürdiges Bild der Demut bietet dann sein verborgenes Leben in der Werkstatt zu Nazareth. Er will sich in nichts von den Geringsten unterscheiden. Von ihm, der ewigen Weisheit, heißt es: Er nahm zu wie an Alter, so an Weisheit und Liebenswürdigkeit vor Gott und den Menschen. Und er war seinen Eltern untertan bis zu seinem dreißigsten Jahr.

 

Als er dann in die Öffentlichkeit treten wollte, ließ er sich mit den Büßern von Johannes taufen und zog sich in die Wüste zurück, als müsste er sich durch Gebet und Fasten auf sein Lehramt vorbereiten. Wie wurde er von den Großen, Vornehmen und Gelehrten verachtet, weil er aus dem verachteten Nazareth kam, eines Zimmermannes Sohn zu sein schien und sich mit ungebildeten Jüngern umgab. Wenn er gepriesen wurde, gab er dem Vater die Ehre; nannte ihn einer "guter Meister", so sagte er: "Gott allein ist gut." Musste er boshafte Verleumdungen zurückweisen, so tat er es ohne Erbitterung mit wenigen Worten. Sonst schwieg er und schimpfte nicht wieder, wenn er gescholten wurde, drohte nicht, wenn er litt. In allem zeigte er sich dem himmlischen Vater untertan. Deshalb nahm er Knechtsgestalt an, wurde wie ein Sünder befunden, wurde gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. So sühnte er den Hochmut der Sünde, die sich gegen Gott erhob und zeigte uns den Weg zur Bekehrung und Aussöhnung mit Gott, den Weg der Demut.

 

Dies war denn auch die Grundlage der Lehre, die er verkündete. Tritt jemand auf, um für eine Sache oder Partei zu werben, so verkündet er vor allem sein Programm, d.h. den kurzen Inbegriff seiner Ansichten und Bestrebungen. Auch Jesus stellte gleich am Anfang seiner Lehrtätigkeit in kurzen Sätzen den Hauptinhalt seiner Lehre auf. Es war in der Bergpredigt vor vielen tausend Zuhörern. Mit einer gewissen Feierlichkeit berichtet der Evangelist: Und Jesus tat seinen Mund auf und sprach: Selig sind die Armen im Geist, denn ihrer ist das Himmelreich!

 

Also die Armen im Geist sind selig, ihnen gehört das Himmelreich. So verkündet der Herr als das Grundgesetz seines Reiches die Demut. Denn nach der allgemeinen Auslegung der Väter sind unter den Armen im Geist die Demütigen zu verstehen. Der heilige Bernhard sagt deshalb: "Die Hauptlehre und der Inbegriff des Christentums ist, demütig sein." Und der heilige Augustin: "Die ganze Lehre der christlichen Weisheit besteht in der Demut."

 

Als seine Jünger einst wieder über den Vorrang stritten, nahm Jesus ein Kind, stellte es in ihre Mitte und sprach: Wenn ihr (eurer Gesinnung nach) nicht werdet wie dieses Kind, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen. Und darauf kommt er bei jeder Gelegenheit zurück, auf die Notwendigkeit, demütig zu werden. So wenn er sagt: "Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der erste sein will, soll euer Sklave sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele." (Matthäus 20,24-28) Und er will, dass wir uns alles eitlen Selbstgefallens entledigen: "Wenn ihr auch alles getan habt, was euch befohlen ist, so sagt immer noch: Unnütze Knechte sind wir und haben nur getan, was wir zu tun schuldig waren."

 

So verkündet unser Heiland und Seligmacher immer und überall in Wort und Tat: "Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen." Und weshalb? "So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele!" Das hat noch kein Weltweiser gelehrt, so etwas hat noch kein Weltbeglücker den Menschen zu bieten gewagt. Wo ist das Glück? Diese große Frage beantwortet Jesus auf eine unerhörte Weise. Wollt ihr Ruhe finden, sagt er, den Frieden des Herzens, diesen Himmel auf Erden, den alle Schätze und Genüsse der Welt nicht erkaufen können, dann lernt von mir sanftmütig und demütig werden.

 

Hören wir noch, was der heilige Augustinus über diese Aufforderung unseres göttlichen Lehrers zu sagen hat: "Welch eine wundervolle Sache! Der Sohn Gottes, der Erschaffer und Erhalter aller Dinge wird unser Lehrer: Lernt von mir. Ein solcher Lehrmeister wird uns wohl lehren, wie er Himmel und Erde erschaffen hat, wie er alles erhält, wie alles nach Maß und Gewicht, nach Zahl und Größe im Zusammenhang steht? Nein, seine Hauptlehre, die er uns beibringen will, ist die Demut: Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig. Jesus sagt: Lernt von mir. Was sollen wir von dir lernen? Unerschaffene Dinge schaffen, einen neuen Himmel, eine neue Erde machen? Dazu sind wir nicht fähig. Was sollen wir denn von dir lernen? Demut. - Sollen wir aber alle in diese Schule kommen? Viele von uns sind ungelehrig und von hartem Verstand; sollen desungeachtet alle diese Lehre studieren? Ja, alle; nicht allein ist es gegeben, Tote zu erwecken, Kranke zu heilen, fremde Sprachen zu reden; Jesus wird uns auch nicht am Wunderwirken als die Seinen erkennen; aber alle können demütig sein. Darum ist es auch zu allen gesagt: Lernt von mir, ich bin sanftmütig und demütig von Herzen. - Sind dieser Lehre vielleicht nur diejenigen bedürftig, die Sünder gewesen und jetzt bekehrt sind zum Herrn? Nein, auch die Gerechten, die Tugendhaften, die schon Vollkommenen sogar und die nie in Sünde gefallen sind; denn Jesus fordert uns nicht auf, die Demut zu lernen von dem öffentlichen Sünder, der an sein Herz schlug, nicht von Magdalena, die sich ihm zu Füßen warf; er fordert uns auf: Lernt von mir!"

 

Fragen wir schließlich noch, was haben wir zu tun, um Demut zu lernen? Die Antwort liegt schon in der Aufforderung des Herrn: Lernt von mir! Er ist unser Muster und Vorbild, auf ihn müssen wir schauen, in seine Fußtapfen eintreten, an ihn uns halten. Also hören auf sein Wort, betrachten sein Beispiel, bitten um seinen Beistand. Die Demut ist eine Tugend, sie erfordert also Gottes Gnadenbeistand und beständige Übung. Gottes Gnade sollen wir erlangen durch demütiges und beharrliches Gebet. Das wahre Gebet ist ohnehin schon eine Übung der Demut. Beuge also nicht nur das Knie, sondern auch das selbstgefällige, stolze Herz immer wieder vor der Majestät Gottes, bekenne deine Armseligkeit und Sündhaftigkeit, halte an um den guten Geist, den der Herr denen verheißt, die darum beten. Demütige dich im Gebet insbesondere, wenn der Hochmutsteufel dich anficht und sprich: Jesus, sanftmütig und demütig von Herzen, mache mein Herz gleich deinem Herzen!

 

Und dann: Übung macht den Meister. Habe den Mut, weise zu sein, sprach einst ein Weiser. Habe den Mut, die Demut zu üben, ruft dir der Herr zu. Habe den Mut, deine Vorzüge und guten Werke zu verheimlichen, dagegen deine Fehler zu betrachten, deine Sünden vor Gott und den Menschen zu bekennen; habe den Mut, dich selbst zu verachten und dich von anderen verachten zu lassen; habe den Mut, dich um Gottes willen jeder menschlichen Kreatur zu unterwerfen; habe den Mut, das Niedrige dem Hohen vorzuziehen, Verleumdung mit stillschweigender Ergebung über dich ergehen zu lassen, Spott, Beleidigung, Beschimpfung mit Dank gegenüber Gott hinzunehmen, weil er dir dadurch Gelegenheit gibt, Demut zu lernen; habe den Mut, jede Demütigung als eine Gnade von Gott zu betrachten, weil sie dir Gelegenheit gibt, deine Sündhaftigkeit zu erkennen und deine Sünden abzubüßen. Mit einem Wort: Habe den Mut des Christen, so hast du Demut. Dann kannst du in Wahrheit mit dem Apostel sagen: Ich lebe, doch nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir.

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6. Über die christliche Liebe

 

Unser Evangelium verkündet das große Gebot der Liebe. Dass die Liebe das Hauptgebot des Christentums ist, gefällt auch den Menschen, die sonst von Religion und Christentum nichts wissen wollen. Sie meinen wohl, Glaubenssätze seien Nebensache, die Hauptsache sei die Liebe. Das ist ebenso verkehrt, als wenn jemand sagen sollte, die Hauptsache von einem Baum seien die Früchte; auf die Wurzeln, den Stamm und die Art des Baumes komme es nicht an. Die Frucht wahrer Gottes- und Nächstenliebe findet sich nur auf dem Baum des wahren Christentums. Von der Gottesliebe wurde dies schon nachgewiesen; von der Nächstenliebe wollen wir es nachweisen aus ihrem Wesen, ihren Beweggründen und Eigenschaften.

 

Die christliche Nächstenliebe besteht in der beharrlichen Gesinnung und Willensrichtung, kraft der wir alle Mitmenschen wertschätzen, ihnen von Herzen wohlwollen und ihr Wohl nach Kräften zu befördern suchen.

 

Die Wertschätzung des Nächsten beruht auf der Anerkennung seiner Menschen- und Christenwürde. Wahre Liebe beruht ja auf Hochachtung; was man nicht achtet, kann man auch nicht lieben. Wer also den Nächsten als Werkzeug der Sünde missbraucht, handelt nur aus großer Selbstsucht, seine angebliche Liebe ist in Wahrheit Hass. - Das schuldige Wohlwollen fordert, dass wir dem Nächsten alles Gute für Leib und Seele, Zeit und Ewigkeit wünschen und gönnen, so wie wir es uns selbst wünschen, und an seinen Erlebnissen warmen Anteil nehmen; wie der Apostel mahnt: "Freut euch mit den Fröhlichen und trauert mit den Trauernden." (Römer 12,15) - Diese liebevolle Gesinnung muss sich dann auch in der Tat zeigen durch die Bereitwilligkeit, das Wohl des Nächsten zu befördern, für das allgemeine Beste zu  arbeiten und Opfer zu bringen, auch jedem einzelnen nach besten Kräften zu helfen, soweit er auf unsere Hilfe angewiesen ist, seine Rechte und Güter zu verteidigen, und alles zu vermeiden, was ihn unnötig kränken oder verletzen kann. - Das Wesen der Nächstenliebe besteht also nicht in der sinnlichen Zuneigung, wie sie die Bande des Blutes oder der Freundschaft erzeugen. Sie hat vielmehr ihren Sitz im Willen, der uns antreiben muss zu wahrer Wertschätzung, aufrichtigem Wohlwollen und tatkräftiger Hilfsbereitschaft gegenüber dem Nächsten.

 

Die christliche Nächstenliebe hat ihren Grund nicht in natürlicher Güte und Zuneigung, sondern im Glauben. Im Licht des Glaubens erscheint uns jeder Mensch achtungs- und liebenswürdig wegen der Gaben, die Gott ihm verliehen hat.

 

Jeder Mensch trägt in sich ein Ebenbild Gottes, mag es auch noch so wenig zu erkennen oder noch so verunstaltet sein. Das natürliche Ebenbild Gottes besteht in Vernunft, freiem Willen und Unsterblichkeit der Seele. Besitzt er dazu noch die heiligmachende Gnade, so trägt er in sich das übernatürliche Ebenbild, das ihn der göttlichen Natur teilhaftig, zu einem Kind Gottes und Erben des Himmels macht. Das göttliche Bild im Menschen können wir nicht missachten, ohne das Urbild zu verachten. "Gleichwie der König (sagt der hl. Hieronymus) in seinem Bild entweder geehrt oder verunehrt wird, also wird auch Gott im Menschen geliebt oder gehasst. Derjenige kann einen Menschen nicht hassen, der Gott liebt; und der kann seinen Gott nicht lieben, der einen Menschen hasst." Dasselbe sagt der Lieblingsjünger: "Wenn jemand sagt, er liebt Gott und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner; denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann der Gott lieben, den er nicht sieht?" (1. Johannes 4,20) Eltern ziehen sich alles an, was jemand ihren Kindern tut. So wird auch Gott uns alles, was wir seinen Kindern antun, so anrechnen, als hätten wir es ihm selbst getan. Haben wir nicht alle einen Vater? Hat nicht ein Gott uns erschaffen? Warum verachtet also unter uns einer den andern? (Maleachi 2,10)

 

Ungläubige und Sünder mögen die Gotteskindschaft nicht besitzen; das natürliche göttliche Ebenbild tragen sie dennoch an sich. Und zudem sind sie Gegenstand der göttlichen Hirtenliebe, die den verirrten Seelen nachgeht. Weshalb der heilige Augustin mahnt: "Du sollst jeden Menschen für deinen Nächsten halten, auch wenn er kein Christ ist; denn du weißt nicht, was er bei Gott ist und was Gott mit ihm vorhat; der heute unter den Götzendienern steht und einen Stein anbetet, kann morgen sich bekehren und den wahren Gott anbeten, vielleicht besser wie du."

 

Jeder unserer Mitmenschen ist ferner ein Erlöster Jesu Christi und für die ewige Seligkeit bestimmt, unser Weggenosse auf der Reise in die Ewigkeit. Um den teuren Preis seines Blutes hat der Herr ihn erkauft. Deshalb müssen wir ihn wertschätzen und lieben.

 

Zur Nächstenliebe verpflichtet Gottes Gebot. Schon im Alten Bund galt dieses Gebot: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." (3. Mose 19,18) Dieses Gebot bekräftigte Christus und erklärte es als Hauptgebot des Neuen Bundes: "Dieses ist mein Gebot, dass ihr einander liebt." (Johannes 15,12) "Daran will ich erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr einander liebt." (Johannes 13,35) "Die Nächstenliebe" - sagt der heilige Cyrillus - "ist das Bild Christi, das dem Christen aufgedrückt ist, und woran man erkennt, dass wir ihm angehören." Das merkten selbst die Heiden in den ersten Christenzeiten. Sie, die nichts als kalte Selbstsucht und Eigennutz kannten, konnten sich nicht genug über die Christen wundern. "Seht", sagten sie zueinander, "seht, wie sie sich lieben!"

 

Dies wird dereinst vor allem das Kennzeichen sein, das der Herr an uns suchen wird, wenn wir vor seinem Richterstuhl erscheinen müssen, um aus seinem Mund unser Urteil für die Ewigkeit zu hören. Entdeckt er dieses Merkmal nicht bei uns, so hilft uns auch der Glaube nichts und helfen uns selbst nicht Wunderzeichen, die wir etwa in seinem Namen verrichtet haben; wir werden aus seinem Mund hören: Weiche von mir, du Verfluchter, ich kenne dich nicht! Bei der letzten großen Abrechnung am Ende der Welt wird er die Schafe von den Böcken scheiden lassen, je nach dem die einen die Liebe und Barmherzigkeit geübt haben, die andern nicht. Dann, wird er sagen, was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. (Matthäus 25)

 

Was der Herr gebot, das übte er zuvor selbst. Wie wahrhaft göttlich erwies sich seine Liebe zu den armen Menschen, selbst zu den verlorensten Sündern. Mit welcher Liebe nahm er sich auch der irdischen Not an, da er im Judenland umherging und Gutes tat. "Kommt alle zu mir," sprach er, "die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken." (Matthäus 11,28) Die Bosheit seiner Widersacher, der Undank seines Volkes konnte das Feuer der Liebe, das in seinem Herzen brannte, nicht auslöschen. Sie erbitterte ihn nicht, sondern presste ihm nur Tränen des Schmerzes und Mitgefühls aus. Da er die Seinigen so wunderbar geliebt hatte, liebte er sie bis zum Ende, indem er das Sakrament seiner Liebe einsetzte und dann sein Leben für sie zum Opfer brachte. Und nicht nur für sie, sondern auch für seine Feinde, deren er noch in seiner Todesnot am Kreuz in erbarmender Liebe gedachte. Wahrlich, er durfte sagen: "Ihr sollt einander tun, wie ich euch getan habe. Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe!"

 

Wir müssen also unsere Mitmenschen lieben wegen ihrer Würde, weil Gott es gebietet und Christus es durch sein Beispiel gelehrt hat.

 

Hierin liegt der Unterschied zwischen der übernatürlichen Tugend der christlichen Nächstenliebe und der natürlichen Menschenliebe. Von Natur fühlt sich jedes Wesen zu seinesgleichen hingezogen. Der Mensch liebt von Natur insbesondere diejenigen, die ihm durch Verwandtschaft, Freundschaft und Wohltaten nahestehen; die seinem Liebesbedürfnis entgegenkommen durch angenehme Gestalt, ansprechendes Betragen, körperliche und geistige Vorzüge. Manche haben eine besonders starke natürliche Anlage und Neigung zu Güte, Liebe und Wohltun. Dieses ist noch keine Tugend, die vor Gott gilt. Das erklärt der Heiland mit den Worten: "Wenn ihr nur diejenigen liebt, die euch lieben, welchen Lohn werdet ihr dann haben? Tun das nicht auch die Sünder? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden?" (Matthäus 5,46) Am wenigsten gilt die grobsinnliche Liebe zum anderen Geschlecht etwas vor Gott, die so oft dieses Wort missbraucht zur Entschuldigung der niedrigsten Lüste. Eine Liebe, die Gott vergisst und sein Gebot mit Füßen tritt, ist keine wahre und keine christliche Liebe. Die wahre und christliche Nächstenliebe geht aus der Gottesliebe hervor, die sich durch Mitteilen und Wohltun offenbart; sie beherrscht, regelt und veredelt also die natürlichen Triebe, dient nicht der Selbstsucht, sucht nicht das Ihrige, sondern opfert sich auf für das zeitliche und ewige Wohl des Nächsten.

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7. Über die Nächstenliebe

 

Ob wir die christliche Nächstenliebe haben, davon hängt alles ab für unser Christentum und unser Schicksal in der Ewigkeit. Nun wird es wenige Christen geben, die sich nicht wenigstens einbilden, Nächstenliebe zu haben. Man täuscht sich nur zu leicht hierin. Sehen wir deshalb zu, wie die wahre Nächstenliebe beschaffen sein muss.

 

Ihre erste Eigenschaft ist Aufrichtigkeit. "Liebt einander innig mit aufrichtigem Herzen", mahnt der Apostel (1. Petrus 1,22) Aufrichtig ist sie, wenn wir nicht nur in Worten und Benehmen Liebe zur Schau tragen, sondern wirklich eine wohlwollende Gesinnung gegen den Nächsten im Herzen haben. Die weltlichen Anstandsregeln fordern, dass man einander Liebenswürdigkeiten und Artigkeiten ins Gesicht sagt, sich zu allen Diensten bereit erklärt, die herzlichste Teilnahme zeigt für anderer Wohlergehen oder Missgeschick. Und doch ist das alles gewöhnlich nur leere Form, hinter der sich Gleichgültigkeit oder gar Abneigung verbirgt. Die wahre Liebe hingegen nimmt es ernst mit dem Gebot des Herrn: "Alles was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen auch tun." (Matthäus 7,12) Was wir uns selbst wünschen, müssen wir auch anderen wünschen und ihnen so begegnen, wie wir von ihnen behandelt werden möchten. Wir werden uns dann freuen mit den Fröhlichen und trauern mit den Trauernden, werden an des Nächsten Wohl und Wehe innigen Anteil nehmen, mit seinen Fehlern Nachsicht, mit seinen Schwächen Geduld tragen, seine Handlungen mild beurteilen und gern das Bessere von ihm annehmen; lieber für den Fehlenden beten als sie richten und ihre Fehler an die große Glocke hängen; gern die verdiente Anerkennung spenden, mit Tadel und Strafe hingegen sparsam sein; gern jedem nach Kräften beispringen und in Reden und Betragen alles vermeiden, was andere kränken kann. Wir wissen ja, wie weh uns selbst Schadenfreude und Gefühllosigkeit, Rücksichtslosigkeit und harte Behandlung tut, wie angenehm uns dagegen ungeheuchelte Liebe und Rücksichtnahme berührt. Wie schön kennzeichnet der Apostel die aufrichtige Gesinnung mit den Worten: "Die Liebe ist geduldig, ist gütig; die Liebe beneidet nicht, sie handelt nicht unbescheiden, ist nicht aufgeblasen, nicht ehrgeizig, nicht selbstsüchtig, sie lässt sich nicht erbittern, denkt nichts Böses, freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, hat aber Freude an der Wahrheit." (1. Korinther 93,4)

 

Die Aufrichtigkeit der Liebe zeigt sich vor allem durch tatkräftige Teilnahme. "Wenn jemand, schreibt der Apostel, die Güter dieser Welt hat, und wenn er seinen Bruder Not leiden sieht, sein Herz vor ihm verschließt, wie bleibt die Liebe Gottes in Ihm? Meine Kinder, lasst uns nicht mit Worten und mit der Zunge lieben, sondern in der Tat und Wahrheit!" (1. Johannes 3,17+18) Manche können fremde Not nicht ansehen, ihr Herz fließt über von Mitgefühl; sollen sie aber etwas tun zur Linderung der Not und von ihren gewohnten Genüssen und Vergnügungen etwas opfern, so meinen sie, das könne doch niemand verlangen. Und dann entschuldigen sie sich gern mit dem Einwand, die Notleidenden seien selber schuld an ihrem Elend. Freilich eine bequeme Ausrede. Aber wie würde es ihnen selbst ergehen, wenn Gott der Herr sie behandeln würde wie sie es verdienen? Und wie wird es ihnen im Gericht ergehen, wenn sie ihr Leben zugebracht haben nach dem Vorbild des reichen Prassers, der nur an sein Wohlbefinden und Vergnügen dachte? Auch mancher, der nicht reich ist, gleicht dem Prasser, weil er nur für sich und höchstens noch für seine nächsten Angehörigen sorgt. - Das wahre Christentum offenbarte sich stets in den leiblichen und geistigen Werken der Barmherzigkeit; was das Heidentum nicht kannte, das hat das Christentum in reicher Fülle hervorgebracht; Veranstaltungen zur Linderung jeglicher Not und heldenmütige Aufopferung im Dienst des Nächsten.

 

Die rechte christliche Nächstenliebe ist ferner uneigennützig. Sie berechnet nicht den Vorteil, den sie von ihren Wohltaten haben könnte und lamentiert nicht über Verkennung oder Undank. Die Liebe ist nicht selbstsüchtig. Deshalb warnt der göttliche Heiland: Wenn du ein Mittag- oder Abendessen gibst, so lade nicht deine Freunde oder Brüder oder Verwandten oder deine reichen Nachbarn ein, damit sie dich nicht wieder einladen und dir Vergeltung werde; sondern wenn du ein Mahl gibst, so lade die Armen, Krüppel, Lahmen und Blinden ein, und selig wirst du sein, weil sie dir nicht vergelten können; denn es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten. (Lukas 14,12) Und wiederum: "Wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welcher Lohn gebührt euch? Denn auch die Sünder tun dasselbe. Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr hofft wiederzubekommen, welcher Lohn gebührt euch? Denn auch die Sünder leihen Sündern, dass sie Gleiches wiedererhalten. Ihr aber sollt Gutes tun und leihen, ohne etwas dafür zu hoffen; so wird groß euer Lohn und ihr werdet Kinder des Allerhöchsten sein." (Lukas 6,33) Nach dem Vorbild des himmlischen Vaters, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse, regnen lässt über Gerechte und Ungerechte, spendet die christliche Liebe ihre Guttaten ohne Ansehen der Person.

 

Freilich macht sie wohl einen Unterschied. In jedem Menschen sieht sie ihren Nächsten; sie weiß jedoch, dass der eine ihr näher steht als der andere und mehr Anspruch auf sie hat. Der nächstbeste fremde Mensch steht uns nicht so nahe wie Verwandte, Freunde, Bekannte und überhaupt solche, die besonderen Anspruch haben auf unsere Liebe. Die Bande der Natur werden durch die Religion nicht gelöst, sondern geheiligt. Deshalb sagt der Apostel: "Tut Gutes allen, vor allem aber den Glaubensgenossen."

 

Ausschließen dürfen wir von unserer Nächstenliebe niemand; sie muss sich auf alle Menschen ohne Ausnahme erstrecken. Das wollte der Heiland lehren durch das Gleichnis vom barmherzigen Samaritan.

 

Insbesondere fordert er, dass wir selbst unsere bittersten Feinde lieben. Im Gegensatz zu den Pharisäern, die nur von der Freundesliebe wissen wollten, verkündete er: "Ich aber sage euch, liebt eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch verfolgen und verleumden, damit ihr Kinder seid eures himmlischen Vaters, der seine Sonne aufgehen lässt über Gerechte und Ungerechte." (Matthäus 5,45) Manche meinen wohl: Diese Rede ist hart, wer kann sie hören? Indessen, mag die Feindesliebe auch manchmal schwer werden, unmöglich ist sie nicht. Insbesondere dann nicht, wenn wir recht durchdrungen sind von unserer eigenen Sündhaftigkeit. Ein Gericht ohne Barmherzigkeit, sagt der Herr, wird über jeden ergehen, der nicht seinem Nächsten von Herzen verzeiht. Die Furcht vor Gottes Gericht sollte jeden Groll unterdrücken. Was einer uns auch angetan haben mag, es ist nichts im Vergleich mit dem, was wir Gott angetan haben durch unsere zahllosen Sünden. Will sich also Bitterkeit und Rachsucht im Herzen regen, so mögen wir auf den Gekreuzigten schauen, der noch im Tod gebetet hat für seine Feinde, auch für uns, an die Brust schlagen und beten: Vergib uns unsere Schuld, so wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!

 

Die Feindesliebe ist der Prüfstein wahrer Nächstenliebe. Bei der Liebe zu den Freunden kann man sich leicht täuschen; man glaubt um Gottes willen zu lieben, während nur natürliche Zuneigung und Selbstsucht die Triebfeder ist. Die Feindesliebe hingegen überwindet die Regungen der Natur, sie ist nicht naturwidrig, wohl aber übernatürlich, der schönste Triumph der Gnade über die Natur, das sicherste Zeichen echten Christentums.

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8. Über die Sanftmut

 

Indem das Evangelium vor der übermäßigen Sorge um das Irdische warnt, verweist es nachdrücklich auf die Sorge um das eine Notwendige, um die Rettung unserer Seele: "Sucht zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, alles übrige wird euch zugegeben werden." Das Irdische als Zugabe verheißt der Herr auch jener Tugend, ohne die die christliche Nächstenliebe nicht bestehen kann: "Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen." 

 

Worin besteht die Tugend der Sanftmut? Sie ist eine Schwester der christlichen Demut, eine Tochter der christlichen Liebe. Deshalb sagt der göttliche Heiland: "Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen" (Matthäus 11,29), und sein Apostel: "So zieht an als Gottes Auserwählte herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut." (Kolosser 3,12) "Ich ermahne euch, ein Leben zu führen, das des Rufes würdig ist, der an euch erging. Seid demütig, sanftmütig, friedfertig und geduldig, ertragt einander in Liebe, und bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält." (Epheser 4,1-3) "Ertragt euch gegenseitig, und vergebt einander, wenn einer dem andern etwas vorzuwerfen hat. Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Vor allem aber liebt einander, denn die Liebe ist das Band, das alles zusammenhält und vollkommen macht." (Kolosser 3,13-14) Von der Liebe sagt er: sie lässt sich nicht erbittern, sondern erträgt alles. "Ein Knecht des Herrn soll nicht streiten, sondern zu allen freundlich sein." (2. Timotheus 2,24) "Sie sollen immer bereit sein, Gutes zu tun, sollen niemand schmähen, nicht streitsüchtig sein, sondern freundlich und gütig zu allen Menschen." (Titus 3,1-2) So lehrt auch der heilige Jakobus: "Wer von euch ist weise und verständig? Er soll in weiser Bescheidenheit die Taten eines rechtschaffenen Lebens vorweisen. Wenn aber euer Herz voll ist von bitterer Eifersucht und von Ehrgeiz, dann prahlt nicht, und verfälscht nicht die Wahrheit! Das ist nicht die Weisheit, die von oben kommt, sondern eine irdische, eigennützige, teuflische Weisheit. Wo nämlich Eifersucht und Ehrgeiz herrschen, da gibt es Unordnung und böse Taten jeder Art." (Jakobus 3,13-16)

 

Die Sanftmut besteht also darin, dass wir den Zorn beherrschen, diese ungehörige Aufregung des Gemütes, die Erbitterung und Rachsucht bewirkt. Es gibt auch einen gerechten Zorn, der sich empört gegen das Böse und dabei in den rechten Schranken bleibt. Die Sanftmut lehrt uns die innere Ruhe bewahren, sowie den äußeren Gleichmut Dingen gegenüber, gegen die man sich nicht erzürnen soll; und bewahrt uns bei gerechtem Anlass zum Zorn vor übermäßiger Aufregung, Schmäh- und Fluchworten, vor unvernünftigen, übereilten, ungerechten und lieblosen Handlungen. Weshalb der Apostel mahnt: "Jeder Mensch soll schnell bereit sein zu hören, aber zurückhaltend im Reden und nicht schnell zum Zorn bereit; denn im Zorn tut der Mensch nicht das, was vor Gott recht ist." (Jakobus1,19-20) 

 

Um zur Übung der Sanftmut anzueifern, gibt der Herr ihr die Verheißung: "Ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen!" - In der Tat, mögen wir leben wo und wie wir wollen, so wird uns immerfort mancherlei begegnen, was uns nicht gefällt, Aufregung und Bitterkeit weckt, unsere Ruhe stört. Bald ist es Ungehorsam der Untergebenen, bald Ungerechtigkeit Vorgesetzter, bald Bosheit von Mitmenschen oder deren Fehler und üblen Gewohnheiten. Wenn wir uns gegen solche Widerwärtigkeiten nicht mit Sanftmut zu waffnen wissen, so kommen wir aus Zorn und Verdruss nicht heraus. Kaum hat die Zeit den Spiegel der Seele geglättet, so wühlt ihn ein anderer Sturm schon wieder auf. Der Sanftmütige dagegen lässt sich durch nichts aus der Fassung bringen, bleibt unter allen Umständen ruhig und gelassen. Was andere erbittert, darüber kann er sich wohl mit einem Scherzwort hinwegsetzen. Als den heidnischen Weltweisen Sokrates jemand nicht wiedergrüßte und man ihn deshalb aufhetzen wollte, sagte er ganz vernünftig: "Wäre es verständig zu zürnen, weil ein anderer nicht so höflich ist wie ich?" Und als er einst verleumdet wurde, sprach er: "Wenn das Böse, das man von mir sagt, wahr ist, dient es zu meiner Besserung; ist es aber nicht wahr, so bin ich es nicht, von dem man spricht." - Er war es, der die zanksüchtige Xantippe zur Frau hatte. Einst hatte sie wieder arg gelärmt und gepoltert. Sokrates schwieg und verließ das Haus. Da riss sie, erbost über seine Gelassenheit, das Fenster auf und goss ein Gefäß mit Wasser über ihn aus. Der Weise ließ sich auch dadurch nicht aufbringen, sondern sagte nur: "Ich wusste ja wohl, dass auf das Donnerwetter ein Regenguss folgen musste."

 

Wie viele bittere Wunden, wie viel Herzensqual und Unfrieden könnten wir uns ersparen, wenn wir mit solchem Gleichmut Beleidigungen und Kränkungen zu ertragen lernen wollten. Was ein Heide konnte, sollen wir Christen nicht können? Wir haben ja unseren göttlichen Lehrmeister und seine Verheißung: "Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen." Im Grunde liegt eine gleiche Verheißung auch in den Worten: "Selig sind die Sanftmütigen, sie werden das Erdreich besitzen." Ebenso heißt es schon beim Psalmisten: "Doch die Sanftmütigen werden das Land bekommen, sie werden Glück in Fülle genießen." (Psalm 37,11) Sie werden der irdischen Güter froh werden können, während der böse Zorn alles vergällt.

 

Neben dem Herzensfrieden ist der Frieden mit den Mitmenschen der Lohn der Sanftmut. Sie löscht das Feuer des Zornes, überwindet die Feindseligkeit, bezwingt den Hass, verhindert und schlichtet Streitigkeiten. Einem wahrhaft Sanftmütigen vermag selbst die ärgste Bosheit auf die Dauer nicht widerstehen. Der heilige Chrysostomus sagt: "Nichts ist mächtiger als die Sanftmut; gleichwie Wasser den schon angezündeten Scheiterhaufen löscht, also löscht ein gutes Wort das Feuer des Zornes, das schon lichterloh im Herzen des Menschen aufbrennt." "Vollziehe deine Werke mit Sanftmut," sagt der Weise, "und du wirst außer der Ehre auch die Liebe der Menschen gewinnen." (Jesus Sirach 3,19) - Friede und Eintracht lässt sich nicht erhalten ohne Sanftmut. Wenn wir nichts von anderen ertragen wollen, können wir mit ihnen nicht auskommen. Wir müssen ihre Fehler und Gebrechen in Geduld ertragen, soweit sie sich nicht ändern lassen. Mann und Frau, Eltern und Kinder, Vorgesetzte und Untergebene, Alte und Junge, müssen einander ertragen lernen nach der Mahnung des Apostels: "Seid demütig, friedfertig und geduldig, ertragt einander in Liebe, und bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält." (Epheser 4,2-3)

 

Endlich ist die Sanftmut das sicherste Mittel, andere gut zu regieren. Wer selbst nicht gut erzogen ist, wie kann der andere erziehen; und wer sich selbst nicht in der Gewalt hat, wie kann der andere leiten? Manche Eltern und Vorgesetzte meinen etwas auszurichten, wenn sie beständig poltern, schimpfen und strafen. Aber beständige Ungewitter zerstören nur. Die Schrift sagt: "Vergeblich ist die Züchtigung, die von einem Schmähenden im Zorn geschieht." (Jesus Sirach) Und der Apostel mahnt: "Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, sondern erzieht sie in der Zucht und Weisung des Herrn!" (Epheser 6,4) "Wenn sich einer zu einer Verfehlung hinreißen lässt, meine Brüder, so sollt ihr, die ihr vom Geist erfüllt seid, ihn im Geist der Sanftmut wieder auf den rechten Weg bringen." (Galater 6,1)

 

Die Sanftmut ist das sicherste Mittel, sich Gehorsam zu verschaffen. Freilich darf man sie nicht mit Schwäche und sträflicher Nachsicht verwechseln. Sie ist wohl vereinbar mit heilsamer Strenge und Festigkeit. Der heilige Franz von Sales, der durch seine Milde und Liebe zahllose Sünder und Ketzer bekehrte, empfahl diese Tugend vor allem denen, die andere bessern wollen: "Wenn ihr mit Nutzen am Heil der Seelen arbeiten wollt, so müsst ihr den Wein eures Eifers mit dem Balsam der Sanftmut mischen; mit großer Festigkeit, aber auch mit gleichmäßiger Sanftmut muss man das Laster bekämpfen."

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9. Sanftmut und Demut

 

Nichts ist uns angenehmer, als mit sanftmütigen Menschen umzugehen; wollen wir aber selbst diese Tugend üben, so merken wir nur zu bald, wie schwer das ist. Das Feuer des Zornes schlummert stets unter der Asche, ein schwacher Windhauch kann es zur Flamme entfachen. Selbst tugendeifrige Menschen klagen noch im Alter, wenn die Hitze der Jugend längst erloschen scheint, über den schweren Kampf mit dieser Leidenschaft. Der heilige Franz von Sales, der durch seine Sanftmut aller Herzen eroberte, hatte sie in jahrelangem Ringen mit seinem hitzigen Temperament sich angeeignet. Zweiundzwanzig Jahre, so bekannte er einst, hatte er um diese Tugend zu ringen gehabt. Die Sanftmut ist eben nicht, wie manche meinen, eine Schwäche, sondern eine Stärke des Gemütes; sie besteht nicht in natürlichem Phlegma oder in furchtsamer Zurückhaltung, sondern in der starkmütigen Beherrschung seiner selbst, die nur die Frucht vieler Kämpfe und Siege sein kann. Was kann uns diesen Sieg über uns selbst erleichtern? Einige Mittel seien hier angeführt.

 

Das erste ist die Übung der Demut. Lerne demütig sein, und die Sanftmut wird dir nicht schwer fallen. Dass diese beiden Tugenden unzertrennliche Schwestern sind, deutet der Heiland an mit den Worten: Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen! Auch die Apostel stellen immer beide Tugenden zusammen. Woher kommt es, wenn wir bei Widerspruch, Kränkungen und Beleidigungen so leicht aufbrausen und die Ruhe verlieren? Es kommt von unserem Stolz, der uns mit übertriebener Einbildung und jeden Vorstoß gegen unsere Eigenliebe als ein Verbrechen erscheinen lässt, das nach Rache schreit. Bei allen Heiligen ohne Ausnahme finden wir die Seelenstärke, die Unrecht und Kränkungen mit Gelassenheit zu ertragen wusste; denn alle Heiligen waren von Herzen demütig, und wenn ihnen Schlimmes widerfuhr, so hielten sie dafür, dass sie nichts Besseres verdienten.

 

Gott sei mir Sünder gnädig, sprach der Zöllner im Tempel; er demütigte sich und es fiel ihm deshalb nicht ein, sich wegen des hochmütigen Pharisäers aufzuregen. Wie würde es uns helfen, die Fehler des Nächsten zu ertragen, wenn wir uns mehr erinnern wollten unserer eigenen Fehler, und wie langmütig Gott diese erträgt. Wie unleidlich war doch immerfort unser Betragen Gott gegenüber. Seine Wohltaten haben wir mit so viel Undank vergolten, seine Gebote missachtet, ihn ins Angesicht beleidigt. Tausendmal hat er uns verziehen und ebenso oft sind wir in unsere Fehler zurückgefallen. Wenn er uns künftig immer wieder vergeben soll, so fordert er, dass wir ebenso unseren Widersachern vergeben; wenn er uns weiter ertragen soll, so müssen wir ebenfalls die Gebrechen anderer ertragen lernen. Bedenke also, wenn der Zorn dich übermannen will: Hätte Gott nicht mehr Nachsicht und Geduld mit dir, wie du mit anderen hast, dann stände es schlimm mit dir.

 

Bedenke auch, welche Nachsicht oft deine Mitmenschen mit dir üben müssen. Wir verkehrten Menschen schauen immer nur auf andere und vergessen uns selbst. Andere sollen vollkommen sein, wir bleiben die alten. Was macht dich oft so verdrießlich, so aufgebracht, so zornig? Nicht wahr, die Grobheit, die unerträgliche Laune, die Bosheit derer, mit denen du zu tun hast. Aber vielleicht hast du dieselben oder gar noch schlimmere Fehler. Und dennoch verlangst du, dass andere dir mit Sanftmut begegnen, deine Fehler entschuldigen oder übersehen, dir nicht gleich alles übelnehmen, dir nachgeben, mit Nachsicht und Schonung mit dir umgehen. Was du willst, das dir geschehe, das tue auch anderen. "Einer trage des anderen Last," sagt der Apostel, "und so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen." (Galater 6,2)

 

Das Gesetz Christi ist die Liebe. Üben wir uns in der schuldigen Nächstenliebe, so wird uns auch die Übung der Sanftmut nicht schwer. Was müssen Ehegatten, Eltern und Kinder und Hausgenossen oft gegenseitig ertragen; sie übersehen und entschuldigen so manches, was anderen unerträglich vorkäme, wenn ihre Liebe groß und stark ist. So wird uns am Nächsten vieles weniger widerwärtig vorkommen, wenn wir ihn mit den Augen der Liebe betrachten.

 

Lernt von mir, sagt unser Vorbild in geduldiger Liebe. Auf ihn sollen wir schauen, an sein Beispiel uns beständig erinnern. Wie sanftmütig ging er um mit seinen Jüngern, wie nachsichtig ertrug er ihre Fehler und Ungelehrigkeit. Wie sanftmütig begegnete er seinen Widersachern, die ihn überall umlauerten, um ihn zu verderben, ihn mit Beschimpfungen überhäuften, seine Worte verdrehten, seine Absichten verdächtigten. Wohl strafte er sie einige Male mit ernsten Worten, jedoch in aller Ruhe und Gelassenheit. Wie sanftmütig behandelte er die groben Samariter, die ihm aus Stammes- und Religionshass auf der Reise eine Herberge verweigerten. Als Johannes und Jakobus voll Empörung Feuer vom Himmel herabrufen wollten, verwies er es ihnen mit den Worten: "Ihr wisst nicht, wessen Geistes ihr seid. Der Menschensohn ist nicht gekommen, um Seelen zu verderben, sondern um sie zu retten." (Lukas 9,54-56) Wie sanftmütig ertrug er den Verräterkuss des Judas im Garten Gethsemani, den schmählichen Backenstreich des Knechtes vor dem Hohenpriester, die Verspottungen und Misshandlungen im Palast des Kaiphas, Pilatus und Herodes, endlich den Hohn seiner Todfeinde am Kreuz. Niemals sehen wir an ihm eine Spur leidenschaftlicher Heftigkeit; in keinem Fall greift er zu seiner Wundermacht, um die Widersacher niederzuschmettern. Auch wenn er tadeln und strafen musste, bewahrte er seine erhabene Seelenruhe, und immer leuchtete seine Liebe selbst zu den hartnäckigsten Sündern hervor und presste ihm wohl Tränen des Mitleids aus. Diese seine Sanftmut war schon von dem Propheten gepriesen, der von ihm spricht: "Er schreit nicht und lärmt nicht und lässt seine Stimme nicht auf der Straße erschallen. Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus." (Jesaja 42,2-3) 

 

Lernt von mir, ruft uns der sanftmütige Heiland zu. Was uns immer überkommen mag, es ist nicht der tausendste Teil von dem, was er zu tragen hatte. Wem widerfuhr jemals so schändlicher Undank wie ihm, der allen Gutes tat und dafür verschmäht, verleumdet, verfolgt wurde? Wer hatte jemals solche Beschimpfungen und Misshandlungen zu erfahren; wem ist je so schreiendes Unrecht geschehen? Und doch blieb er stets die Sanftmut selbst. Da kann niemand sich entschuldigen: man macht es mir zu arg: in den Verhältnissen, bei den Menschen, womit ich leben muss, würde kein Engel es aushalten. Nicht ein Engel wird dir als Vorbild hingestellt, sondern der Sohn Gottes, der sicher nicht zu viel verlangt, wenn er dich zur Nachfolge auffordert. Er kennt deine Natur, dein Temperament, deine Umstände, und doch sagt er: Lerne von mir, was dir schwer fällt, dazu will er helfen mit seiner Gnade. Rufe also zu ihm, wenn etwas schwer fällt: Jesus, sanftmütig von Herzen, mache mein Herz gleich deinem Herzen! Und dann versuche es, übe dich bei den Vorkommnissen des täglichen Lebens. Übe dich in liebreichem, höflichem Betragen gegen jedermann. Ein gutes Wort findet einen guten Ort; eine einzige harte Rede aber kann viel verderben. Wirft man dir ein bissiges, grobes Wort hin, schweige entweder oder suche es zum Guten zu wenden. Bedenke auch: Die Fehler des Nächsten in Geduld ertragen, ist ein großes Werk der Barmherzigkeit, das uns bei Gott Barmherzigkeit erwirbt.

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10. Über die Friedfertigkeit

 

Die Juden beobachteten den Herrn, ob er am Sabbat heilt. Er ließ sich durch ihre Bosheit nicht erbittern, sondern suchte sie in Geduld und Sanftmut zu bessern und durch seine Belehrung über die Übung der Demut und Liebe. Wir werden ebenfalls immer wieder mit menschlicher Verkehrtheit zu kämpfen haben. Möchten wir es stets in demselben Geist tun. Dann werden wir die weitere Verheißung des Herrn verdienen: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.

 

Die Friedfertigkeit ist die Neigung, mit allen Menschen in Frieden zu leben, und das ernste Streben, alles zu tun, um die Eintracht zu erhalten oder wiederherzustellen.

 

Der Friedfertige liebt den Frieden. Er wünscht mit allen in Eintracht zu leben, und es ist ihm nicht wohl, wenn Zank und Streit entsteht, während hingegen dem Streitsüchtigen nicht wohl ist, wenn er nicht mit andern im Krieg lebt.

 

Der Friedfertige sucht den Frieden zu bewahren. Er räumt daher alles aus dem weg, was ihn stören könnte. Gern bringt er auch Opfer für die Erhaltung des Friedens, leidet Unrecht und Nachteil und verzichtet auf sein gutes Recht, wenn er darf, um eines so großen Gutes willen. Wie herrlich offenbarte sich diese Friedfertigkeit bei Abraham, als wegen der Weideplätze Streit entstand zwischen seinen und des Lot Knechten. Mein Lieber, sprach er, lass doch keinen Zank sein zwischen mir und dir, zwischen meinen und deinen Hirten. Siehe, das ganze Land ist vor dir; ich bitte dich, trenne dich von mir. Gehst du zur Rechten, so gehe ich zur Linken, und wählst du die Gegend zur Linken, so bin ich zufrieden mit der zur Rechten. - Abraham war der Ältere und Mächtigere, dennoch gab er nach und war zufrieden, als Lot die fruchtbarste Gegend um Sodoma wählte. Den Lohn seiner Friedfertigkeit sollte er bald erhalten. Über Sodoma brach das Strafgericht herein, und während Abraham verschont wurde, musste Lot froh sein, das nackte Leben zu retten.

 

Die Nachgiebigkeit braucht freilich nicht so weit zu gehen, dass wir uns alles gefallen lassen und wichtige Rechte preisgeben. Sonst würde ja jede Bosheit und Gewalttätigkeit ermuntert. Dafür ist die Obrigkeit da, dass wir ihren Schutz anfordern können, wenn wir uns nicht anders helfen können. Aber für gewöhnlich handelt es sich nur um Meinungsverschiedenheiten und unbedeutende Sachen, wenn Streit entsteht, da soll man schweigen, nachgeben, fünf gerade sein lassen und nicht seinen Kopf durchsetzen wollen. Müssen wir aber unser Recht behaupten, so soll es ohne Erbitterung und Leidenschaft geschehen, der Gegner soll wissen, dass uns nicht Rachsucht leitet.

 

Es ist ein großes Opfer, das der Gott des Friedens uns hoch anrechnet, wenn wir selbst einen bedeutenden Schaden willig leiden, um vielleicht lebenslängliche Feindschaft zu vermeiden. Handelt es sich aber um die Interessen der Religion und Tugend, so wäre Nachgiebigkeit sündhafte Schwäche. Der Friedensfürst, über dessen Wiege Engelchöre der Welt den Frieden verkündeten, hat deshalb gesagt: Glaubt nicht, dass ich gekommen bin, den Frieden auf die Erde zu bringen; ich bin nicht gekommen den Frieden zu bringen, sondern das Schwert; denn ich bin gekommen, den Menschen zu trennen von seinem Vater, die Tochter von der Mutter, die Schwiegertochter von der Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine Hausgenossen sein. Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn und Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. (Matthäus 10,34) Den nächsten Verwandten und Angehörigen müssen wir also widerstehen, wenn sie zwischen uns und Gott stellen wollen. Um anderen zu gefallen und keinen Streit zu haben, darf man also keinesfalls die Pflichten der Religion, des Standes, Gottes Gebot verletzen. Der Friede, der mit der geringsten Sünde erkauft würde, wäre nicht gottgefällig und heilbringend. Manche zeigen sich sehr eigensinnig, wenn es sich um ihre Interessen handelt, aber außerordentlich duldsam in Sachen der Religion und des Gewissens. Wenn sie Gelegenheiten zum Bösen abstellen, schlechte Schriften und Reden beseitigen, Ordnung im Haus, an der Arbeitsstelle halten sollten, meinen sie: man richtet doch nichts aus, macht sich nur Verdruss, ich will meine Ruhe haben. Solche sind nicht friedfertig, sondern pflichtvergessen.

 

Der Friedfertige sucht auch Frieden zu stiften. Wenn Streit und Feindschaft in seiner Umgebung entsteht, bläst er nicht in das Feuer, sondern sucht es zu löschen. Es handelt sich manchmal nur um Missverständnisse, um elende Zuträgereien: die Streitenden würden sich vielleicht gern vertragen, aber keiner will zuerst die Hand der Versöhnung reichen. Im allgemeinen sind die Menschen in solchen Fällen eher geneigt, sich am Streit zu weiden und die Gegner noch mehr aufeinanderzuhetzen, als den Unfrieden zu steuern. Welch ein schönes Werk kann da der Friedensstifter tun, wenn er mit Vorsicht, Klugheit und Unparteilichkeit Streitende zu vereinigen sucht. Es ist wohl ein heikles Geschäft, das leicht Undank einträgt, allein die Liebe lehrt den rechten Weg und das rechte Wort zur rechten Zeit finden.

 

Die Friedfertigkeit ist Christenpflicht. Die Heilige Schrift schärft sie immer wieder ein. Habt Frieden miteinander, befiehlt der Herr. (Markus 9,49) Wie sehr ihm daran liegt, dass alle Christen dieses Gebot erfüllen, zeigt sein hohepriesterliches Abschiedsgebet. Vater, sprach er, ich bitte dich nicht bloß für diese, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, dass alle eins seien, wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin. (Johannes 17,20) Und sein Apostel mahnt: Soweit es möglich ist, soviel an euch liegt, habt Frieden mit allen Menschen. (Römer 12,18) Bemüht euch, Einigkeit des Geistes zu erhalten durch das Band des Friedens. (Epheser 4,3) Deshalb sagt auch der heilige Augustin: "Wer in seinem Herzen, seinen Reden, seinen Werken keinen Frieden hat, darf kein Christ genannt werden." "Wie sollen die, die einen Glauben haben," so der heilige Paulinus, "nicht auch ein Herz haben? Wie soll nicht ein Sinn sein, wo nur ein Gott ist?" - Jesus hinterließ beim Scheiden von den Seinen ihnen dies als Vermächtnis: Den Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. (Johannes 14,27) Wer dieses Vermächtnis nicht bewahrt, gehört nicht zu ihm. Weshalb der heilige Augustinus sagt: "Zum Erbe des Himmels kann nicht gelangen, wer das Testament des Friedens nicht beobachten will. Keine Eintracht kann mit Christus haben, wer mit einem Christen in Zwietracht leben will. - Wer sich in dieser Eintracht nicht finden lässt, den verstößt der himmlische Vater, den enterbt der Sohn, den flieht der Heilige Geist." Wenn wir also Personen sehen, die zu den Frommen gehören wollen, aber mit Hausgenossen und Nachbarn beständig in Zank und Streit leben, so ist sicher ihre Frömmigkeit nur Pharisäertum. Friedfertigkeit und Verträglichkeit gehören notwendig zur wahren Frömmigkeit.

 

Der friedfertige Sinn macht uns Gott und die Menschen zu Freunden. Gott ist nicht ein Gott der Uneinigkeit, sondern des Friedens. (1. Korinther 14,33) Der Welt den Frieden zu bringen, wurde der Sohn Gottes Mensch. Als den Friedensfürsten hatten ihn die Propheten vorausverkündet, als seine kostbarste Gabe verkündeten die Engel dieses bei seiner Ankunft. Wer den Frieden liebt, ist also ihm ähnlich, ein Kind und Freund Gottes. Brüder, mahnt deshalb der Apostel, seid gleichgesinnt, seid friedsam, und der Gott des Friedens wird mit euch sein. (2. Korinther 13,11) Daraus folgt aber auch, dass die Streitsüchtigen Gott besonders verhasst sein müssen. "Hören mögen (schreibt der heilige Gregor von Nazianz) jene, die Zank und Streit verursachen, die Worte der Schrift: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Daraus mögen sie einen Schluss ziehen auf das Gegenteil. Wenn jene Kinder Gottes genannt werden, die Frieden stiften, so sind gewiss Kinder Satans jene, die Zank und Streit verursachen."

 

"Der Friede (so sagt der heilige Augustinus) ist ein so großes Gut, dass man nichts Angenehmeres wünschen und nichts Nützlicheres besitzen kann." Seht, wie gut und schön es ist, wenn Brüder in Eintracht zusammen wohnen, sagt der Psalmist. (133,1) "Wenn die Menschen wollten (schreibt der heilige Franz von Sales), würden sie den glückseligen Zustand der Heiligen Gottes auf Erden genießen, und es wäre wohl nicht nötig, ein anders Paradies zu suchen als das, das in einer Gemeinschaft zu finden ist, wo ein jeder mit den andern und gutem Einverständnis lebt." Daher mahnt weiter der Apostel: Wer das Leben lieb haben und gute Tage sehen will, der suche den Frieden und jage ihm nach. (1. Petrus 3,10) Wie glücklich ist das Leben in einer Familie, in der Eintracht und Friede herrscht. Mag man auch schwer zu sorgen und zu arbeiten haben um das tägliche Brot, mag es auch an Kämpfen und Leiden nicht fehlen, alles wird versüßt durch die gegenseitige Liebe, einer tragt des anderen Last, und so wird sie leicht. - Wenn hingegen in einem Haus kein Friede herrscht, so mag da sonst alles in Überfluss sein, es wird alles verbittert und vergiftet durch Hass und Verdruss. Mann und Frau mögen einander nicht sehen, gönnen einander kein gutes Wort, tun sich alles zum Trotz, ärgern und kränken einander nach Kräften. Die Kinder, die in solchem Streit aufwachsen, können keine Achtung haben vor solchen Eltern, arten ihnen nach und fühlen sich mitten im Überfluss als friedlose, d.h. unglückliche Menschen. Kommt dann in eine solche Familie noch Sorge und Not, dann ist sie eine Hölle auf Erden.

 

Wie kostbar ist also der Friede, wie segensreich die Tugend der Friedfertigkeit. Wenn es auf dieser Welt Glück geben kann, so ist es jenen beschieden, die den Frieden lieben. Wie sehr sollten wir uns also die Mahnung zu Herzen nehmen: Suche den Frieden und jage ihm nach!

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11. Über das größte und erste Gebot

 

"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüt und aus allen deinen Kräften. Dies ist das größte und erste Gebot." So hören wir es im Evangelium und haben es vielleicht schon über hundert Mal gehört und hören es immer wieder, und doch - gibt es noch Menschen, ja, Christen genug, die es immer noch nicht verstehen, was es eigentlich heißen soll, und wozu dies Gebot uns verpflichtet.

 

1. Zuerst, was es nicht heißen soll. Mancher denkt vielleicht: Weil Gott ein unendlich großer Herr, das höchste, vollkommenste Gut ist, vor dem die ganze Welt, Engel und Menschen gleichsam ein Nichts sind, und weil er will, dass wir ihn über alles lieben, so muss auch seine Liebe unser Herz ganz und gar in Besitz nehmen, und wir dürfen neben ihm nichts anderes lieben, oder alles andere nur halb und halb lieben. Ist das recht? Nein, gewiss nicht. Denn er schreibt uns ja im Evangelium ausdrücklich vor, dass wir auch unseren Nächsten wirklich und wahrhaft lieben sollen. Überdies will er ausdrücklich, dass die Kinder ihre Eltern, und die Eltern ihre Kinder lieben sollen. Und der heilige Paulus ermahnt ja so nachdrücklich die Eheleute zu gegenseitiger Liebe. Ja, selbst unsere Feinde sollen wir lieben. Gott verlangt auch nicht, wenn er will, dass wir ihn aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele lieben sollen, er verlangt auch nicht, dass unsere Liebe zu ihm eine überaus große Zärtlichkeit und fühlbare Innigkeit habe, wie manche Mutter sie hat zu ihrem einzigen und liebsten Kind. Wenn ihr Kind beleidigt wird oder ihm ein Übel widerfährt, vergießt sie vielleicht heiße Tränen; wenn aber Gott durch schwere Sünden beleidigt wird, dann kann sie keine Träne weinen. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass sie Gott nicht wahrhaft liebt. Dies sind nämlich Gefühlserregungen, die zur Liebe Gottes nicht notwendig gehören, und die niemand in seiner Gewalt hat.

 

Ist aber das vielleicht die rechte Liebe Gottes, wenn jemand eine hohe Meinung von Gott hat, wenn er glaubt und überzeugt ist, Gott müsse als das höchste Gut über alles im Himmel und auf Erden geliebt werden? Auch das nicht. Aufs Meinen und Glauben kommt es hierbei allein nicht an. Dann hätten ja die Teufel und Verdammten in der Hölle auch eine rechte Gottesliebe. Denn bei all ihrer Verworfenheit wissen sie recht gut und sind davon überzeugt, dass Gott über alles geliebt werden muss.

 

Auch das ist noch kein Zeichen der wahren Liebe Gottes, wenn jemand von großer Hitze und heißem Eifer sich angetrieben fühlt, bald dieses oder jenes gute Werk zur Ehre Gottes zu tun.

 

Das zeigt uns der heilige Petrus, als er in blindem Eifer und eitler Selbstüberschätzung ausrief: "Wenn sich auch alle an dir ärgern, o Herr, so werde ich es doch nicht tun." Mancher möchte plötzlich große Bußwerke üben, die Heiden bekehren, in ein Kloster gehen, als Märtyrer sterben usw., und meint, das sei ein sicheres Zeichen von großer Gottesliebe. Weit gefehlt, ein sicheres Zeichen ist es gewiss nicht, oft nur eine natürliche, eitle Gefühlsregung.

 

Andere meinen, das sei die rechte Liebe Gottes, wenn sie allerlei fromme Reden führen, mit niedergeschlagenen Augen einhergehen, sich über die Schlechtigkeit und Sündhaftigkeit des Nachbars oder der Nachbarin ereifern, und in der Kirche lange und süße Gebete verrichten und immer im Herzen seufzen: O mein Gott, ich liebe dich über alles und will mit der bösen Welt nichts zu tun haben. Was davon zu halten ist, kann man an ihrem Benehmen sehen; kaum sind sie aus der Kirche zurückgekommen, kaum haben sie das Gebetbuch beiseite gelegt, da zeigen sie durch ihre Ungeduld, ihren Zorn, ihren Eigensinn, ihre Lieblosigkeit, ihre Klatscherei, ihre Gier in Speise und Trank und anderen Sünden, dass sie ihren Gott mit der Zunge und in Worten, nicht aber in der Tat und Wahrheit lieben, wie der heilige Johannes sagt: "Meine Kinder, lasst uns nicht mit Worten und mit der Zunge, sondern in der Tat und Wahrheit lieben." Ich sage das nicht von allen, ja, nicht mal von den meisten, die andächtig und fleißig beten, aber es gibt solche, die mit äußeren frommen Übungen alles getan zu haben glauben. Doch jetzt genug. Wie zeigt sich denn die wahre Gottesliebe?

 

2. Erinnern wir uns nochmals an das Wort des heiligen Johannes: Wir sollen Gott lieben nicht mit Worten, sondern in der Tat und Wahrheit. Ein Sohn mag hundertmal denken oder sagen: "Ich liebe meinen Vater", wenn er aber seine Befehle oder Wünsche verachtet, ihn durch Ungehorsam beleidigt, keinen Dienst, keine Arbeit oder Mühe für den Vater übernehmen mag, so liebt er ihn gewiss nicht. So verhält es sich auch mit unserer Gottesliebe. Gott will, dass du seine Gebote und die Gebote seiner heiligen Kirche hältst, - tue das, - dann liebst du ihn. Gott will, dass du alle deine Mitmenschen, selbst deine Feinde, wahrhaft liebst, dass du gerecht, friedfertig, sanftmütig, geduldig gegenüber ihnen bist, ihnen barmherzig zu Hilfe kommst, - tue das, - dann liebst du Gott. Gott will, dass du geduldig das Kreuz oder die Kreuze trägst, die du dir selbst auferlegt hast, oder die er in seiner Weisheit dir auferlegt, er verspricht dir dafür reichlichen Himmelslohn, - tue das, - dann liebst du ihn. Gott will, dass du fleißig zu ihm betest, die heiligen Sakramente fleißig und würdig empfängst, überhaupt die Gnadenmittel seiner heiligen Kirche treu in Anspruch nimmst, - tue das, - dann liebst du ihn. Gott will, dass du bereit sein sollst, lieber alles zu verlieren, alles zu leiden, als ihn durch eine schwere Sünde zu beleidigen, - tue das, - dann liebst du ihn. Siehe, das heißt Gott in der Tat und Wahrheit lieben. Und diese Liebe ist das rechte Kennzeichen seiner Jüngerschaft, ein Unterpfand seiner zärtlichsten Nächstenliebe, die Sicherheit des Heils und die Bürgschaft des ewigen Lebens, ein Gut, ein Schatz, womit sonst nichts auf Erden zu vergleichen ist; o, dass es dein Anteil sei in Zeit und Ewigkeit!

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